Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
Herausgeber von »El Principal«, der auflagenstärksten Tageszeitung der Provinz Córdoba, kannte er seine Möglichkeiten, die über die reine Berichterstattung hinausgingen. Er war meinungsbildend und etablierte eigene Ansichten. In Journalistenkreisen – nicht nur in Córdoba, sondern auch in Buenos Aires und den umliegenden Provinzen – war Alfredo geachtet und bewundert, nicht nur wegen seiner Intelligenz und seinem Spürsinn, sondern auch wegen seiner wertvollen Kontakte, die sich schon oft als entscheidend erwiesen hatten. So etwa 1951, als er mehrmals bei »La Prensa« angerufen hatte, einer Zeitung in Buenos Aires, die dem Perón-Regime ausgesprochen kritisch gegenüberstand, um die Kollegen zu warnen, dass ihnen schlimme Repressalien drohten.
»Was redest du denn da, Fredo?«, hatte Gonzalo Paz, der Verleger, belustigt entgegnet.
»Seht euch vor«, hatte Alfredo ihm geraten. »Die Peronisten machen keine halben Sachen. Sie haben andere Gesetze, Gonzalo. Evita Perón hat euch im Visier und wird nicht eher Ruhe geben, bis ihr im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen seid. Ich weiß es aus sicherer Quelle, glaub mir.«
Einige Wochen später, Anfang März, brannte es in dem historischen Gebäude von »La Prensa« an der Avenida de Mayo, bis in den Keller voller Papier und anderer Materialien. Die traditionsreiche Zeitung der in Buenos Aires hochangesehenen Familie Paz, laut Evita Duarte der Inbegriff oligarchischer Vaterlandsverräter, wurde vollständig zerstört. Die Zeitung musste ihre Druckerpressen anhalten und ihre Pforten schließen. Einen Monat später verpasste ihr ein Gesetz, das ihre Enteignung beschloss, den Gnadenstoß.
Alfredo schwang mit dem Sessel herum und betrachtete das Ölgemälde, das hinter seinem Schreibtisch hing: die Villa Visconti im norditalienischen Aostatal, einen Steinwurf von Frankreich und der Schweiz entfernt. Mit dieser Villa verband er die schönsten Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Die erhabene Landschaft bildete eine eindrucksvolle Kulisse für diesen Palazzo, der über Generationen den Viscontis gehört hatte, einer der ältesten Familien der Gegend. Meisterhaft hatte der Maler die majestätischen Alpen, den strahlendblauen Himmel und das satte Grün rund um sein Elternhaus auf die Leinwand gebannt.
Er seufzte. Die Art und Weise, wie sein Vater Giovanni Visconti alles verloren hatte, sogar die Ehre, war seine schmerzlichste Erinnerung, die er trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, weder vergessen noch verzeihen konnte. Nach dem Tod seiner Frau, an die sich Alfredo kaum erinnerte, war Giovanni in seiner Verzweiflung zuerst dem Alkohol und später dem Spiel verfallen. Er verschwendete das Vermögen ohne Rücksicht auf seine Kinder oder seinen guten Namen. Die Freunde der Familie luden sie nicht mehr ein, sie wechselten die Straßenseite und sahen auf sie herab.
Ruiniert und moralisch zerstört, beging Giovanni Selbstmord. Seine Söhne Alfredo und Pietro, zwei verängstigte, unerfahrene junge Burschen, veräußerten, was noch an Besitz übrig war, und verließen die Stadt. In Genua schifften sie sich auf der Stella del Mare ein und ließen Italien erleichtert hinter sich. Alfredo kam als Vierundzwanzigjähriger nach Argentinien und ließ sich in Córdoba nieder. Pietro, der ein aufregenderes, mondäneres Leben bevorzugte, entschied sich für Buenos Aires, wo er drei Jahre später an einer rätselhaften Halsentzündung starb. Der Tod seines Bruders war ein harter Schlag für Alfredo, über den er nicht hinweggekommen wäre, hätte es damals nicht die kleine Francesca gegeben.
Er hatte den Sizilianer Vincenzo de Gecco an Deck der Stella del Mare kennengelernt und war überrascht von dessen Besonnenheit und Klugheit. Auch die Entschlossenheit und Willensstärke, mit denen er der Welt zu trotzen gedachte, zogen ihn an. Genau wie er war Vincenzo aus seinem Heimatort Santo Stefano di Camastro geflohen, einem kleinen Örtchen im Norden Siziliens am Tyrrhenischen Meer. Nichts anderes als Fischer sollte er werden, das erwartete man von ihm. Es gab Konflikte; unter anderem war die Familie nicht mit seiner Verlobten Antonina D’Angelo einverstanden, die aus einem Nachbardorf stammte, das seit ewigen Zeiten mit Santo Stefano verfeindet war. Das Mädchen, eine neunzehnjährige Waise, die von einer alten Tante aufgezogen wurde, zögerte nicht, noch in derselben Nacht mit ihrem Geliebten nach Palermo durchzubrennen, von wo sie nach Genua weiterreisten,
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