Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
nachdem sie geheiratet hatten. Dort nahmen sie das erste Schiff nach Argentinien, einem Land, von dem sie so viel gehört hatten.
Alfredo war sicher, dass Vincenzo niemals eine Schule abgeschlossen hatte. Trotzdem war er sehr wissbegierig und las alles, was ihm in die Finger kam. Vincenzo suchte Anschluss an Fredo, wie er ihn nannte, als er feststellte, dass dieser so gebildet und vornehm war, wie er es immer gerne gewesen wäre. Später in Córdoba verbanden sie der Schmerz des Entwurzeltseins und die Sehnsucht nach der Heimat.
Die Frau seines Freundes lernte Alfredo erst einige Tage später kennen. Das Mädchen litt unter starker Übelkeit und verbrachte die erste Zeit bei Tee und Zwieback auf ihrer Pritsche in der Kabine.
»Der Seegang und ihre Schwangerschaft machen ihr zu schaffen«, erklärte Vincenzo.
Irgendwann ging Alfredo zur Zeit der Mittagsruhe an Deck, um die Einsamkeit zu genießen. Gedankenverloren blickte er zum Horizont, den Kopf voller Fragen, und da sah er sie an der Reling stehen. Ihr blasses Gesicht betonte ihre roten Lippen und die schwarzen Augenbrauen. Ihre zarten Gesichtszüge passten wunderbar zum Rest ihres zierlichen, gut geformten Körpers. Er beschloss, sie anzusprechen, doch dann blieb er wie angewurzelt stehen, als er sah, wie Vincenzo zu ihr trat und sie um die Hüfte fasste. Das Mädchen drehte sich um und schlang die Arme um seinen Hals.
Alfredo sprang aus dem Sessel auf und lief im Kreis. Oh, wie sehr er Antonina liebte! Zwanzig Jahre hatten nichts an dieser Liebe ändern können, die eine doppelte Qual für ihn gewesen war: wegen des Verrats, den sie bedeutete, und wegen Antoninas Gleichgültigkeit, die nur Augen für ihren Mann hatte. Auch nach Vincenzos Tod, sechs Jahre nach ihrer Ankunft in Córdoba, hatte es Alfredo nicht gewagt, ihr seine Gefühle zu gestehen, die ihn verzehrten, denn es war offensichtlich, dass Vincenzos Dahinscheiden nichts an der Liebe geändert hatte, die Antonina für ihn empfand.
Es kam ihm vor, als hätte er Francescas Stimme im Vorzimmer gehört. Doch dann schüttelte er den Kopf: Er musste sich getäuscht haben, denn es dauerte noch Tage, bis sie vom Land zurückkommen sollte. »Francesca«, sagte er zu sich selbst, »was wäre ohne deine Zuneigung aus mir geworden?« Ihretwegen war er in Córdoba geblieben, obwohl er wusste, dass das Geld und die Macht des Landes in Buenos Aires saßen. Pietro, der sich gut in der Hauptstadt eingelebt hatte, hatte ihn gedrängt, doch zu ihm zu ziehen. Es wäre vernünftig gewesen, auf den Vorschlag seines Bruders einzugehen und sich Jahre freiwilliger Qualen in der Nähe einer Frau zu ersparen, die er wie von Sinnen liebte und von der er doch nichts anderes als Freundschaft bekam. Francesca aber, die auf die Welt gekommen war, um seine Dunkelheit zu erhellen, und die ihm jedes Mal ein Lächeln entlockte, war sein Lebensinhalt geworden. Seit er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, war etwas zwischen ihnen, das ebenso stark war wie Blutsbande. Fredo war es leid, um Zuneigung zu betteln und sie doch nie zu bekommen. Daher genoss er es, dass die Beziehung zu seinem Patenkind auf Gegenseitigkeit beruhte.
Francesca begrüßte Nora, die Sekretärin ihres Onkels und seit einiger Zeit auch seine Geliebte. Irgendwann hatte sie ein Seidentuch und ein Paar Ohrringe in Fredos Wohnung gefunden und sich erinnert, sie schon einmal an Nora im Büro gesehen zu haben. Obwohl sie ein offenes Verhältnis zu ihrem Onkel hatte und sonst kein Blatt vor den Mund nahm, gelang es ihr nicht, ihn darauf anzusprechen. Anfangs ließ sie ihren Ärger an Nora aus, die sie eigentlich für hübsch, intelligent und sympathisch hielt. Sie grüßte sie mürrisch, leitete Nachrichten nicht weiter und versteckte Unterlagen und Akten. Bis sie Nora bitterlich weinend auf der Damentoilette entdeckte. Die Sekretärin erzählte ihr, das sie ein furchtbar wichtiges Schriftstück verlegt habe, das Herr Visconti seit dem Morgen verlange.
»Ich habe es gestern abgelegt, bevor ich gegangen bin«, schluchzte sie. »Wenn das Papier nicht auftaucht, bringt er mich um, und ich verliere meine Arbeit.«
Francesca ging rasch zu ihrem Schreibtisch, nahm das erwähnte Schriftstück aus der Schublade und legte es an seinen Platz zurück, wo sie es unter andere Papiere schob. Nora erschien mit roter Nase und verquollenen Augen. Auf Francescas Betreiben leerten sie Kisten, Aktenschränke und Mappen, bis sie das Dokument gefunden hatten. Nora war
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