Was Die Liebe Naehrt
können.« Willi zitiert Ludwig Binswangers Diktum: »Wo kein Du mehr
etwas von mir erwartet, bin ich im erotischen Sinne tot.« Diese dialogische Betrachtungsweise der Selbstwerdung sieht Willi im christlichen Bereich
verankert. Er führt sie weiter zu einer ökologischen Betrachtungsweise, die auch Erkenntnisse aus der Naturbeobachtung mit einbezieht. Koevolution meint,
dass Entwicklung des Selbst immer nur im Zusammenhang mit der gemeinsamen und gleichzeitigen Entwicklung anderer Menschen möglich ist und nur in dieser
Wechselwirkung zu einem lebendigen Prozess wird. Völlige Angepasstheit ist ebenso tödlich wie eine völlige Unangepasstheit, sagt die Biologin Christine
von Weizsäcker. Was wir als Gesetzmäßigkeit aus der Natur kennen, gilt auch für die Entwicklung einer Beziehung. Wenn eine Frau sich völlig dem Mann
anpasst, gibt sie sich selbst auf. Dann ist auch keine Beziehung mehr möglich. Denn die Beziehung lebt immer von der Spannung, die zwischen zwei Menschenbesteht. Wenn jedoch jeder nur darauf pocht, ganz er selbst zu sein und wenn er sein vermeintliches Selbst absolut setzt, dann ist keine
Beziehung mehr möglich. Dann bleibt jeder isoliert bei sich selbst. Vor lauter Angst, er könnte sich dem anderen anpassen, bleibt er in seiner Festung und
wird unfähig, den anderen zu spüren und sich auf ihn einzulassen.
Jürg Willi unterscheidet zwischen Liebschaft, die das Ziel hat, sich körperlich und seelisch zu erfahren, und der Lebensgemeinschaft, die eine
gemeinsame Geschichte stiftet. Die Liebschaft ist oft von der eigenen Bedürftigkeit geprägt. Das Liebesbedürfnis ist etwa für Abraham Maslow ein
Defizitbedürfnis: »Es ist ein Loch, das gefüllt, eine Leere, in die Liebe gegossen werden muss.« Doch die reife Liebe ist keine bedürftige Liebe. Wenn ich
nur von meinem Bedürfnis ausgehe, wird der andere schnell zum Gegenstand meines Konsums. In der reifen Liebe benötige ich den anderen nicht, um meine
innere Leere zu füllen, sondern ich liebe ihn, weil ich ihn liebe. Ich bin fasziniert von ihm. Wir bereichern uns gegenseitig in der Liebe.
Die bedürftige Liebe ist häufig die Ursache von Beziehungskrisen. Wenn meine Bedürfnisse vom anderen nicht befriedigt werden, werde ich
unzufrieden. Meine Erwartungen werden nicht erfüllt. Auch wenn ich dem anderen gegenüber meine Bedürfnisse ausdrücke und wenn wir darüber miteinander
sprechen, so bleibt doch noch eine Kluft zwischen unseren Wünschen und der Erfüllung unserer Wünsche und Bedürfnisse. Für den transpersonalen Psychologen
Richard Stiegler kann gerade an dieser Stelle der Überstieg in die spirituelle Ebene erfolgen. Wir könnenuns dann fragen: »Wie können
wir glücklich werden, wenn unsere Erwartungen und Bedürfnisse an das Leben und das Leben selbst oft so weit auseinander klaffen? Gibt es eine tiefere
Erfüllung, auch wenn unsere Bedürfnisse nicht gestillt werden?« Die Beziehungskrise selbst stellt uns spirituelle Fragen. Sie weckt in uns die spirituelle
Sehnsucht »nach einer tieferen Sicherheit, als sie uns das normale menschliche Leben bieten kann. Die Sehnsucht nach einem tieferen Sinn, als uns äußerer
Wohlstand, Ansehen oder Bedürfniserfüllen geben können. Und die Sehnsucht, uns selbst und das Leben an seiner Quelle zu berühren, zu erkennen, wer wir
wirklich sind jenseits oberflächlicher Rollen und Eigenschaften.« Beziehungskrisen sollen angeschaut und besprochen werden. Aber wir sollen uns nicht nur
darauf verständigen, wie weit wir die Bedürfnisse des anderen erfüllen können oder nicht. Letztlich bleibt immer ein Loch des Unerfülltwerdens. Und dieses
Loch können wir nicht mit irgendwelchen Ersatzbefriedigungen stopfen, etwa indem wir uns eine Freundin suchen. Sie kann letztlich nur überwunden werden,
wenn wir in diese Leere hineingehen und in den Grund unserer Seele gelangen, in der wir eine Ahnung haben, was uns wirklich trägt.
Jürg Willi meint, es gebe Zeitströmungen, die die Ehescheidung schon als einen »Leistungsnachweis für Emanzipation« ansehen. Das Verbleiben in der Ehe,
das besagt diese Meinung, würde unsere innere Entwicklung hemmen. Das kann natürlich sein. Aber normalerweise sind die Krisen, in die die Eheleute
geraten, eine Chance, gemeinsam zu wachsen. Eine schnelle Trennung bei den erstenSchwierigkeiten verhindert solches gemeinsames
Wachstum. Eine solche »Koevolution« gelingt aber nur, wenn die Partner nicht auf die Gefühle
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