Was die Nacht verheißt
diesem Augenblick so groß gewesen, dass der Mann vielleicht nicht überlebt hätte. Von dem Moment an, als er sie an Bord entdeckt hatte, war er entschlossen gewesen, sie vor seinen Männern in Sicherheit zu bringen.
Er sah hinüber zu ihrer kleinen Kammer mit dem Vorhang davor und fragte sich, wer sie vor ihm in Sicherheit bringen würde.
5
Während der langen Stunden der Nacht lag Brandy wach in ihrer Koje. Sie war so müde. Müder, als sie je gewesen war. In den verschwommenen Augenblicken, bevor ihre Augen schließlich zufielen, hörte sie das metallische Klingen der Schiffsglocke, die die Stunden zählte. Acht waren es. Vier Uhr morgens.
Es schien ihr, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen, als sie rau von der langfingerigen Hand eines Mannes geweckt wurde. Sie blinzelte mehrmals, sah das erste graue Licht des Morgens durch das winzige Fensterchen hereindringen und schaute matt auf zu Marcus Delaines hoch gewachsener Gestalt, die neben dem Bett stand.
Undeutlich bemerkte sie, dass er eine makellos gebügelte, frische Uniform trug, an der jeder Knopf schimmernd poliert war.
»Es ist Zeit«, sagte er rau. Er sah so gut aus wie immer, und doch wirkten seine Züge herb, als wäre die Kante seines Kinns in Stein gehauen. »Zieht Euch an. Mr. Bass wird Euch erwarten, um Euch an Deck zu begleiten.«
Sofort wurden ihre Gedanken klar. Jilly Sharpe. Vier Dutzend Peitschenhiebe. Herr im Himmel, wie hatte sie das vergessen können? Sie schob sich das vom Schlaf zerzauste Haar aus dem Gesicht und setzte sich in der Koje auf. »Bitte, kann ich nicht... kann ich nicht einfach hier bleiben? Ist es wirklich nötig, dass ich -«
»Ja.« Er machte kehrt und ging hinaus, die Schultern kantig, der Rücken gerade.
Als er sich bückte und unter dem Vorhang hindurch in seine Kajüte ging, schauderte Brandy, denn ihre Gedanken kehrten zum vergangenen Abend zurück. Sie erinnerte sich daran, wie Jilly Sharpes schweres Gewicht sie heruntergedrückt hatte, wie seine schwieligen Hände über ihre Haut gestrichen hatten, wie eklig sein Mund geschmeckt hatte, der sich so brutal auf den ihren gedrückt hatte.
Was für ein Recht hatte Jilly Sharpe gehabt, sich ihr so aufzudrängen? Was für ein Recht hatten Männer überhaupt zu so etwas?
Der Gedanke gab ihr Kraft. Sie war diejenige, die hatte leiden müssen. Sie würde dabei sein, um zuzusehen, wie er dafür bezahlte.
Hastig beendete sie ihr kurzes Morgenritual, bürstete ihr Haar und hielt es zurück mit den Schildpattkämmen, die ihr Marcus einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie zog das mintgrüne Musselinkleid an, das ihr bestes Kleid war. Flo hatte ihr dabei geholfen, es zu nähen, hatte sie ermutigt, die Rüsche unter der Brust und die zwei weiteren am unteren Saum anzunähen, und obwohl Brandy es immer ein wenig übertrieben gefunden hatte, hatte ihre Freundin ihr versichert, dass es genau richtig aussah.
Und sie fühlte sich wirklich gut darin. Wann immer sie es trug, fühlte sie sich hübsch. Das Kleid gab ihr Selbstvertrauen, und das genau war es, was sie jetzt brauchte.
Ohne sich weiter um ihre Unsicherheit und das unbehaglich heftige Klopfen ihres Herzens zu kümmern, duckte sie sich unter dem Vorhang hindurch und öffnete die Kajütentür. Wie Marcus versprochen hatte, stand Hamish Bass im Gang, den grauen Bart ordentlich geschnitten, die Uniform makellos, aber seine Züge wirkten erschöpft, und sein Gesichtsausdruck war ebenso finster wie der des Kapitäns.
»Seid Ihr bereit, Mädel?«
Sie richtete sich gerade auf. »Ich bin bereit.« Er bot ihr den Arm und sie nahm ihn, hielt sich fester, als sie vorgehabt hatte, und ließ ihn nur kurz los, um die schmale Leiter hinaufzusteigen.
Kapitän Delaine stand auf dem Vordeck über ihnen, die Beine breit, eine Hand hinter dem Rücken, die andere zur Faust geballt. Sein Mund war hart, und seine Augen waren dunkler, als sie sie je gesehen hatte. Sie sahen sie flüchtig an und kehrten dann zu den Männern zurück.
Da Hamish Bass sie in seine Richtung drängte, sahen sie jetzt auch andere Männer an, betrachteten sie auf ihrem Weg, fast fünfzig Augenpaare nebeneinander. Brandy gab sich Mühe, nicht auf sie zu achten, ihre Beine am Zittern zu hindern und ruhig über das Deck zu gehen.
Schließlich hatte sie den Kapitän erreicht und stand neben ihm, während Hamish Bass sich auf ihre andere Seite stellte. Marcus sagte kein Wort. Stattdessen starrte er zu der Leiter, die aus dem Laderaum heraufführte, nickte
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