Was die Nacht verheißt
bereit zum Aufbruch, Löwenzahn noch auf den Armen, die ihren Kopf an Brandys Wange rieb, erschien Marcus wieder vor ihr.
»Beim Abschied von einer alten Freundin?«
»Eine liebe Freundin eher als eine alte. Ich werde sie vermissen.«
»Ich bin sicher, dass sie dich auch vermissen wird.« Sanft
hob er die Katze von ihren Armen und setzte sie wieder aufs Deck. Löwenzahn maunzte ein leises Adieu und rannte dann hinüber zur Leiter, die nach unten führte.
Ein weiterer Mann näherte sich. Brandy erkannte die kurze, rundliche Gestalt von Cyrus Lamb. Er streckte ihr die Hand entgegen und drückte ihre warm. »Passt gut auf Euch auf, Mädel. So wie es aussieht, wird wohl eine ganze Weile vergehen, bis unsere Wege sich wieder kreuzen. Und wir alle werden Euch ganz bestimmt vermissen.«
Brandy spürte das schnelle Brennen von Tränen. »Danke, Cyrus, ich Euch auch. Sagt den anderen Grüße von mir, bitte, ja?«
»Ja, Mädel, das mache ich.«
Marcus lächelte sie zärtlich an. »Ich glaube, es ist Zeit, an Land zu gehen.« Als Brandy nickte, legte er ihre Hand auf seinen Rockärmel und führte sie über die Laufplanke auf den Kai, wo er stehen blieb. »Bist du sicher, dass du nicht willst, dass ich mit dir zum Wirtshaus gehe?«
Brandy zwang sich zu lächeln. »Ich komme schon zurecht.«
»Wir sind schon noch ein paar Tage im Hafen, also sage ich dir jetzt noch nicht auf Wiedersehen.«
Tage, dachte sie. Nur noch ein paar Tage, und ihr Liebster wäre fort. Sie wischte diskret eine Träne aus dem Augenwinkel und zwang sich zu einem Lächeln.
»Also gut, dann verschieben wir den Abschied auf später. Wirst du >Zu den Kiefern< wohnen?«
Er hob eine Augenbraue.
»Da wohnst du doch sonst immer, wenn du in der Stadt bist, oder?«
»Ja, schon, ich war nur überrascht, dass du das weißt.«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich weiß eine ganze Menge über dich, Marcus. Ich weiß auch von der Witwe, zu der du gehst. Und ich hoffe, dass, wenn du Gesellschaft brauchst, wenn du hier bist, du dich nicht länger an sie wendest.«
Seine Mundwinkel zuckten, und schließlich hoben sich seine eleganten Lippen zu einem Lächeln. »Ich versichere dir, meine Liebe, dass ich für eine ganze Weile erst mal keine Gesellschaft brauchen werde.«
Brandy lächelte, was sie überraschte, denn ihr Herz tat ihr so weh, dass sie kaum geglaubt hätte, ein Lächeln zustande zu bringen. »Vielleicht kommst du ja später am Abend noch ins Wirtshaus.«
»Ich werde noch eine ganze Weile zu tun haben, aber vielleicht finde ich doch am Schluss noch die Zeit.«
Brandy nickte nur. Sie küssten sich nicht zum Abschied. Diese Tage waren vorbei. Nach seinem letzten kurzen, ermutigenden Nicken wandte sie sich ab und ging in Richtung auf das Wirtshaus. Ihre Brust war schwer wie Blei. Ihr Inneres schien zu Knoten verschlungen, und doch wirkte Marcus unbetroffen. Sie wusste, dass sie ihm nur wenig bedeutete, kaum mehr als eine angenehme Abwechslung. In ein paar Tagen würde er aufs Meer zurückkehren und sie schon allzu bald wieder vergessen.
Der Knoten in ihrer Kehle wurde hart, und tief unter ihrem Brustbein pochte es schmerzlich. Du musst ihn vergessen , sagte sie sich, obwohl sie wusste, dass ihr das nie gelingen würde. Und doch hatte sie gemeint, was sie gesagt hatte - sie war jetzt ein anderer Mensch, stärker als vorher, und früher oder später würde sie schon darüber hinwegkommen.
Sie sah hinunter auf den einfachen braunen Rock und die weiße Bluse, die sie trug. Schon bald würde sie wieder das Mieder tragen, das die Brüste hob, und einen Rock, der ihre Knöchel sehen ließ, die Tracht des Wirtshauses Weißes Pferd. Schon bald würde sie wieder ihr altes Leben vor sich sehen.
Ich werde schon einen Ausweg finden, sagte sie sich, auch ohne Marcus’ Geld. Ich werde ein neues Leben anfangen. Doch jetzt noch nicht. Jetzt brauchte sie erst einmal Zeit, um ihr gebrochenes Herz heilen zu lassen und zu beschließen, was sie tun sollte. Sie hatte gehofft, dass sie die Antwort finden würde, bevor sie zurückkehrte, doch das hatte nicht geklappt.
Brandy starrte vor sich hin, an einem gefleckten Hund vorbei, der an einem Knochen nagte, und zwei kleinen, zerzausten Jungs, die am Rand einer Gasse Hinkelhäuschen spielten. Das Wirtshaus war nicht weit, hinter den Fenstern schimmerte schwaches Licht, die Türen standen offen, um Matrosen hineinzulocken. Sie konzentrierte sich auf die bevorstehende Konfrontation mit ihrem Vater, richtete sich auf und war
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