Was die Nacht verheißt
akzeptieren, dass ihr Vater wirklich nicht mehr da war. Bis dahin hatte sie in einem dumpfen Nebel vor sich hin gebrütet. Es war kein Kummer, sagte sie sich. Wie sollte sie wohl um einen Vater trauern, der sie nie geliebt hatte?
Und doch empfand sie etwas. Einen Schmerz, den sie nicht recht benennen konnte. Vielleicht trauerte sie um die Familie, die sie hätten sein können, oder die Liebe, die es zwischen ihnen nie gegeben hatte. Was immer es auch sein mochte, sie arbeitete vom Morgengrauen bis spät nach Mitternacht und folgte, in einem seltsamen Zustand von Halbbewusstsein, weiter dem Ablauf ihrer Pflichten.
Flo war ihr eine große Hilfe, half ihr, die Beerdigung hinter sich zu bringen und mit den täglichen Pflichten im Wirtshaus fertig zu werden. Ohne den Mann, dessen Gegenwart bis in jede Ecke und jeden Winkel gedrungen war.
»Zumindest werde ich nicht verhungern«, sagte Brandy zu Flo, als sie die Einnahmen eines Abends zählten. »Das Ding macht mehr Gewinn, als ich je geahnt hätte.«
Flos schwarze Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »So sieht es wirklich aus.« Sie schüttelte den Kopf. »In all den Jahren hat dir dein elender Vater nie auch nur einen Pfennig gegeben. Er hätte wenigstens dafür sorgen können, dass du ein paar anständige Kleider bekommst - aber nein, er war zu knauserig, um sich richtig um seine Tochter zu kümmern.«
Brandy sah vom Tisch auf. »Weißt du, Flo, ich habe nachgedacht. Wenn Big Jake so viel Geld verdient hat - was hat er damit gemacht? Ausgegeben hat er es bestimmt nicht. Und wenn doch, ist mir nie aufgefallen, wo er damit hinging.«
Drei Tage später erfuhr Brandy schließlich die Wahrheit. An jenem Tag kam ein Anwalt mit einem dünnen Lederordner, der den letzten Willen ihres Vaters enthielt.
»Mein Vater hatte ein Testament gemacht?«, sagte Brandy entrüstet zu dem Mann.
»Allerdings. Erscheint Euch das wirklich so seltsam?« James Nolan war ein magerer Mann mit gelichtetem blondem Haar und einer winzigen Brille, die seine kleinen braunen Augen umrandete. »Ich werde mich bemühen, Euch den Inhalt mitzuteilen ... vielleicht gibt es einen Ort, wo wir ungestört sein könnten?«
»Natürlich.« Brandy sah hinüber zu Flo, die an der Tür stand, und wusste nicht recht, was sie denken sollte. »Aber ich hätte es gern, wenn meine Freundin mitkommt.«
Der kleine Mann nickte, und Brandy winkte Flo, sie sollte mitkommen. Zusammen gingen sie in einen kleinen Raum neben der Schänke, der für private Zwecke reserviert war. Er war spartanisch mit nur einem zerkratzten ovalen Tisch und zehn angeschlagenen Stühlen eingerichtet, aber die Wände waren frisch gestrichen und die Fenster erst kürzlich geputzt. Es roch nach der Schmierseife, mit der sie den Boden geschrubbt hatte.
In jenem kleinen, unscheinbaren Raum war es, wo Brandy erfuhr, dass sie nicht nur die Besitzerin des Wirtshauses Weißes Pferd war, sondern auch noch etwas wesentlich Wichtigeres zu erwarten hatte.
»Euer Vater hat sehr weise investiert«, erklärte ihr der Mann, als sie sich gesetzt hatten. »Er hat jeden Heller gespart, bis auf die Summen, die er verlieh. Und er war sehr vorsichtig dabei, wem er Geld lieh, sodass ihm seine Klugheit einen guten Batzen eingebracht hat. In einem Wort, Miss Winters, Eure Zukunft ist mehr als nur gesichert. Besser gesagt: Ihr seid eine sehr wohlhabende Frau.«
Brandy saß nur da und konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Ihr wirbelte der Kopf. Sie fürchtete, ihre Beine könnten womöglich nachgeben, wenn sie jetzt aufstand. »Mein Vater hatte ein Vermögen, und das alles hat er mir hinterlassen?«
»Er hatte keinen anderen Erben, meine Liebe. Und er hat sich auch ganz klar ausgedrückt. Ich glaube, Miss Winters, auf seine eigene Art hielt Euer Vater sehr viel von Euch.«
Das glaubte Brandy nicht so recht. Aber vielleicht war es ja doch so gewesen. Big Jake war kein Mann, der gewusst hatte, wie er seine Zuneigung hätte zeigen können - falls es bei ihm so etwas gegeben hatte. Und wie auch immer die Wahrheit gewesen sein mochte, Brandy interessierte sich nicht mehr dafür. Dank Big Jakes frühem Tod bekam sie an jenem Tag das erste und einzige Geschenk, das sie je von ihm bekommen hatte, ein Geschenk, das sie sich den größten Teil ihres Lebens gewünscht hatte - Freiheit vom Wirtshaus Weißes Pferd.
»Was werdet Ihr tun, Miss Winters?« James Nolan faltete das Dokument wieder zusammen, das er eben vorgelesen hatte, und legte es zurück in den
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