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Was die Nacht verheißt

Titel: Was die Nacht verheißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kat Martin
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von der Themse herwehte. Mit unsicheren Schritten ging er zum Schiff, dem einzigen Ort, an dem er sich wirklich zu Hause fühlte. Die Seehabicht lag auf dem Trockendock, wer weiß, für wie lange, doch irgendwann würden die Schäden wieder repariert sein. Das Schiff würde wieder segeln können und sich auf den Weg in weite Fernen machen.
    Doch dann würde der Kapitän nicht mit an Bord sein.
    Hamish kämpfte die Traurigkeit nieder, die sich bei diesem Gedanken in seiner Brust breit machte.
    Marcus lehnte sich zurück an den gepolsterten Sitz der Reisekutsche der Hawksmoors, auf den letzten Meilen ihres Wegs durch die Ländereien von Cornwall zu seinem Heim auf den Klippen.
    Sie fuhren der Küste entlang, über den felsigen Grund in der Gegend des kleinen Seehafens Tintagel. Marcus saß allein in der Kutsche, seine Bediensteten, die ihn versorgten, saßen oben neben dem Kutscher, sicher dankbar für eine Weile Ruhe von der unangenehmen Aufgabe, sich ständig um die Bedürfnisse ihres Herrn kümmern zu müssen.
    Seine Augen schlossen sich angesichts der Welle von Schmerz, die ihn jedes Mal überkam, wenn er an das Leben dachte, das er jetzt lebte. Er wusste, dass der Kummer, der ihn beinah zerriss, nichts zu tun hatte mit den Schmerzen in seinen gebrochenen, nutzlosen Gliedern. Er biss die Zähne zusammen in dem Bemühen, ihn zu verdrängen, machte sein Herz härter gegenüber der Qual zu wissen, dass er kaum noch ein Mann war, sondern eher nichts als ein nutzloser Krüppel.
    Etwas brannte hinter seinen Augen. Er blinzelte und ballte die Fäuste, und das Brennen verschwand. Von der Mitte abwärts spürte er nichts. Wenn nur der Rest auch taub sein könnte. Doch stattdessen fühlte er sich wie erdrückt, seine Brust war so voll von Schmerz und Bedauern, dass er kaum atmen konnte. Er war tief erschüttert, und sein Herz war ihm so schwer, dass er den Willen verloren hatte, weiter als bis zur nächsten Stunde oder gar bis zum nächsten Tag zu denken.
    Und immer war da auch der Ärger. Er schlug deswegen um sich, tat den Menschen weh, die ihn umgaben, wusste, dass er hätte akzeptieren sollen, was geschehen war, war aber völlig unfähig dazu.
    Am schlimmsten von allem war der Zweifel. Der nagende Verdacht, dass jemand etwas mit dem Schiff getan hatte, dass jemand den Mast beschädigt und so den Unfall verursacht hatte, dessentwegen er jetzt ein Krüppel war.
    Wieder und wieder, auf der ganzen langen Reise von London hierher, hatte er den letzten schicksalhaften Tag an Bord seines Schiffes Revue passieren lassen. Wenn ihm nur der Schaden am Mast aufgefallen wäre. Wenn nur der Querarm zehn Sekunden später zersplittert wäre. Wenn er nur etwas konzentrierter gewesen wäre, dann hätte er vielleicht rechtzeitig zur Seite springen können.
    Doch nichts von alledem war geschehen, und jetzt saß er da in der Kutsche, kaum mehr als die Hülle des Mannes, der er einst gewesen war. Er dachte mit Abscheu an die Zukunft und wünschte, er hätte sie ganz vermeiden können. Vielleicht, wenn er erst den Mut aufbrachte, würde er einen Weg finden, diesem Albtraum ein Ende zu setzen.
    Die Kutsche rumpelte weiter und hielt schließlich vor dem riesigen Steinhaus auf den Klippen, Hawksmoor House. Fünfzig Schlafzimmer, zehn Salons, ein stattlicher Dinnersaal, viele Arbeitszimmer und Bibliotheken, endlose Flure und Gänge. Das Haus war mehr als dreihundert Jahre alt. Dank seiner Ahnen war es eine prächtige Mischung verschiedener Stilepochen, voller angenehmer Wärme, die ihn eigentlich hätte verlocken müssen. Doch das tat sie nicht.
    Als Junge hatte er den Ort geliebt, doch als er älter geworden war und die Tatsache akzeptiert hatte, dass ihm das Haus nie gehören würde, hatte er seine Liebe auf etwas anderes gerichtet: auf die See, die es umgab. Und so hatte er ein Leben gefunden, das jeden seiner Träume erfüllte. Und nun war dieser Traum für immer verloren, ebenso wie der Gebrauch seiner Beine.
    Die Tür der Kutsche öffnete sich, und sein Diener Frederick Peterbrook, ein großer, massiger Mann, der seit Jahren für die Familie arbeitete, begann, ihm herauszuhelfen. Große Hände nahmen seine nutzlosen Beine, drehten sie zur Tür, griffen nach ihm, um ihn herauszuheben, als wenn er ein Baby wäre.
    Die Hitze überströmte wieder Marcus’ Gesicht, und er musste den Blick abwenden. Scham und Demütigung kämpften gegen Schmerz und Zorn in ihm an. Er hätte den Mann am liebsten angeschrien, ihm befohlen, er solle ihn in Ruhe

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