Was die Nacht verheißt
ledernen Ordner.
Brandy setzte sich etwas aufrechter hin, und obwohl ihr noch ganz schwindlig war von ihrem unerwarteten Glück, spürte sie eine neue Entschlossenheit. Schließlich konnte sie aufstehen. »Das verdammte Ding verkaufen. Ich will es nie wieder sehen.« Sie konnte es kaum glauben, aber sie war eine reiche Frau. Sie brauchte nicht noch einen einzigen Tag im Wirtshaus Weißes Pferd zuzubringen. Sie brauchte nicht länger die brutalen und hässlichen Erinnerungen an eine schmerzliche Kindheit zu ertragen.
Sie schaute hinüber zu Flo, der Frau, die immer an ihrer Seite gewesen war. »Oder noch besser: Ich werde es meiner Freundin geben.« Brandy grinste. »Von jetzt an, Flo, kannst du dich als die Eigentümerin des Wirtshauses Weißes Pferd betrachten.«
Flos Hand zitterte, als sie sie unwillkürlich zur Kehle hob. »Aber das kann ich doch nicht annehmen -«
»Es gehört dir, Flo. Jahrelang warst du mir wie eine Schwester. Nimm es, mach damit, was immer du willst.«
»Aber was willst du tun?«
»Fortgehen von hier. Herausfinden, was es mit der Welt so alles auf sich hat.«
»Aber wohin? Wo willst du hingehen?«
Brandy dachte darüber nach. Es war sicher keine leichte Entscheidung. Sie würde sorgfältig darüber nachdenken müssen. Sie hatte es nicht eilig. Sie hatte ihre Freiheit gewonnen und konnte jetzt tun, was sie wollte. Ungefragt tauchte Marcus’ Bild vor ihrem inneren Auge auf. Brandy schob es zur Seite. Er hatte ganz klar zu verstehen gegeben, dass sie in seinem Leben keinen Platz hatte, und das hatte sie akzeptiert, so schwer es auch sein mochte. Marcus war fort, und sie wusste nicht, wo er war. Und selbst wenn sie es gewusst hätte - es war der eine einzige Platz auf der Welt, wohin sie nicht gehen konnte.
Hamish Bass stand in der offenen Tür des Schlafzimmers seines Kapitäns in seinem schicken Londoner Stadthaus, den braunen Filzhut in den rauen, wettergegerbten Händen. Hamish starrte auf sie hinunter, als wenn sie einem anderen gehörten, und bemerkte, dass sie zitterten.
Auf der anderen Seite des Zimmers lag Marcus Delaine, Kapitän der Seehabicht, in einem großen Himmelbett, sein Körper wie zerschlagen, das Gesicht zur Wand gedreht. Hamish schloss die Augen, als eine Welle von Traurigkeit sich in seiner Brust ausbreitete. Seit das Schiff gezwungen gewesen war, nach London zurückzukehren, war er jeden Tag hergekommen, um den Kapitän zu sehen, seit eine Armee von Ärzten gerufen worden war, um ihn zu untersuchen, die festgestellt hatte, dass seine Beine mehrfach gebrochen und sein Rücken ebenfalls verletzt war.
Marcus Delaine würde nie wieder gehen können.
»Er schläft jetzt, Hamish.« Der Bruder des Kapitäns, Rexland, war in die Stadt gekommen, als er gehört hatte, was geschehen war. Er war ein guter Mann, treu und zuverlässig. Der Junge war an der Seite seines Bruders geblieben, seit dieser hier angekommen war, doch das hatte nicht das Geringste genützt.
»Aye«, sagte Hamish. »Er schläft. Vielleicht wird ihm die Ruhe gut tun.« Aber Hamish glaubte es nicht. Der Kapitän schlief nicht wirklich, das wusste er, er versteckte sich vor der Wahrheit dessen, was sich ereignet hatte, konnte die Tatsache einfach nicht akzeptieren, dass er ein Krüppel war.
»Ich werde ihm sagen, dass Ihr hier wart«, sagte sein Bruder leise.
»Aye. Sagt ihm, dass ich morgen wieder vorbeikomme.«
Rex nickte, er sah aus wie eine jüngere, weichere Version seines Bruders. »Was ist mit dem Schiff, Hamish? Er wird wissen wollen, was Ihr über den Unfall herausgefunden habt und ob irgendjemand seine Hände im Spiel hatte.«
Hamish war schon einmal dieser Frage begegnet, hatte sich dieselbe Frage gestellt, jeden Tag, seit der verdammte Querbalken heruntergekommen war. »Bisher nichts, aber wir haben eben erst mit den Reparaturen angefangen. Der Sturm hat eine Menge Schäden angerichtet. Wir mussten den Hauptmast auf der Höhe des Decks absägen, nachdem er sich gespalten hatte, wobei der Querarm herunterkam. Der Rumpf ist auch beschädigt worden, und wir haben einiges an Wasser auspumpen müssen. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir sicher sein können, doch bis jetzt gab es keine Anzeichen für Sabotage. Aber wir werden weiter suchen - ganz gründlich ich verspreche es.«
Rex nickte. »Danke.« Die beiden Männer schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen.
Hamish verließ das Stadthaus und machte sich auf den Weg zum Kai, klappte seinen wollenen Kragen hoch, da plötzlich ein rauer Wind
Weitere Kostenlose Bücher