Was die Seele krank macht und was sie heilt
durch ihre religiöse Praxis das Hilflos-ausgeliefert-Sein durch Riten, Opfer oder Gebete zu verändern. So können Menschen einerseits ein höheres Wirken anerkennen und es doch andererseits in ihrem Sinne beeinflussen. Hellinger sieht darin einen Widerspruch. »Entartungen der Religion« entstehen an dem Punkt, an dem jemand versucht, das Geheimnis zu begreifen und in den Griff zu bekommen, statt es anzuerkennen. (Hörfunksendung von Bayern 2/1996)
Hellinger unterscheidet in diesem Zusammenhang eine »natürliche Religion« und eine Religion, die an eine Offenbarung gebunden ist. Offenbarer haben ein besonderes religiöses Erleben, dessen Frucht sie anderen, die dieses Erleben nicht haben, verkünden. Die anderen Menschen müssen dann glauben, statt selbst wahrzunehmen. Der Glaube an einen Offenbarungsgott ist letztlich immer der Glaube an einen Menschen.
Jesus Christus hat nach Hellinger wenig offenbart, aber andere auf Dinge hingewiesen, die sie selber unter bestimmten Umständen wahrnehmen können. Seine Junger und die Apostel haben sich später an seine Stelle gesetzt. Bei Paulus zum Beispiel hat Hellinger den Eindruck, daß es ihm gar nicht um Jesus ging, sondern um seine eigenen Vorstellungen. Jesus wird dann als der Offenbarer dargestellt, doch eigentlich kommt er nicht selber zu Wort. Die »natürliche Religion« setzt sich dagegen dem Geheimnis aus, ohne es ergründen zu wollen.
Der Glaube an einen Offenbarungsgott wird kulturell durch die Familie vermittelt, in die wir hineingeboren werden. In dem Bedürfnis des Kindes, zur Familie zu gehören, teilt es die religiösen Vorstellungen und die religiöse Praxis der Eltern. Wer von diesem Glauben abfällt, manchmal ist das auch ein anderer Glaube oder eine atheistische Einstellung, fällt damit auch von seiner Familie ab. Dies gilt insbesondere dann, wenn die religiöse Einstellung in der Familie einen hohen Stellenwert einnimmt.
Menschen, die von einer Religion abfallen, verspüren ähnliche Schuldgefühle, unabhängig ob sie beispielsweise Mohammedaner oder Christen sind. Das Schuldgefühl hat weniger mit den Inhalten zu tun als mit der systemischen Funktion der Religion. Die Religion dient dazu, bestimmte Gruppen zusammenzuhalten. Mitglied der Gruppe kann nur sein, wer die gleiche Religion teilt. In vielen Gruppen, vor allem in denen, die einer Offenbarungsreligion anhangen, ist das Bekenntnis zum selben Glauben Voraussetzung zum Überleben gewesen. Abtrünnige wurden, zuweilen werden sie es noch heute, nicht nur ausgestoßen, sondern auch getötet. Das gleiche gilt für Ideologien, die sich wie eine Offenbarungsreligion verhalten, zum Beispiel der Marxismus. Wegen der Folgen ist sowohl bei ideologischen wie bei religiösen Gruppen der Bekenntniszwang und die Furcht vor dem Abfall groß.
Die Offenbarungsreligion stellt ein Element in der Sozialisation des Menschen dar. Der Mensch glaubt an etwas Überkommenes, um der Gruppe anzugehören, und nicht weil er selbst entdeckt und erfährt. Hellinger bejaht diese Form der Religion als ein Stadium der menschlichen Entwicklung, denn sie bringt nicht nur Leid über den Menschen, sondern vermittelt auch Werte.
Die natürliche Religion oder, wie Hellinger manchmal auch sagt, »der Schöpfungsglaube« umfaßt die Zustimmung zur Welt, so wie sie ist. Sie verbindet Menschen statt sie auszuschließen. Während der Offenbarungsglaube Grenzen aufbaut, existiert beim Schöpfungsglauben keine Ausgrenzung. Wenn jemand Achtung hat vor den Dingen, wie sie sind (Schöpfungsglaube), kann er nicht mehr ausschließlich in seiner Gruppe bleiben. Er muß über die Grenzen seiner Familie und seiner Gruppe hinausgehen und sich für etwas Größeres öffnen. (ZG: 318)
Geebnet wird dieser Weg zur natürlichen Religion durch die über alle Religionsgrenzen hinaus anzutreffende persönliche Frömmigkeit, die die Riten der überkommenen Religion achtet, aber inhaltlich über sie hinauswächst. Die mystischen Strömungen im Islam und im Christentum sind einander so ähnlich, daß die Unterschiede der Ursprungsreligionen zum Beispiel aufgehoben erscheinen. Über die Grenzen der tradierten Glaubenssysteme hinweg gibt es eine persönliche religiöse Erfahrung. Weil diese religiöse Erfahrung jedem zugänglich ist, nennt Hellinger sie »natürliche Religion«. Im Gegensatz zu anderen Religionen gibt es bei der natürlichen Religion keinen Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen, keine Machtansprüche und keine Missionierung, denn hier
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