Was die Seele krank macht und was sie heilt
hebt er sich von den anderen ab und verliert den Kontakt zum gewöhnlichen Handeln des Lebens (AWI: 69). Doch der Zugang zu Tiefe und Weisheit läßt sich nicht erzwingen, er wird ohne jede Anstrengung gefunden.
Bei schwerkranken Menschen erblickt Hellinger in der Hinwendung zur Esoterik oft ein Mittel, das tiefe Leid nicht mehr anschauen oder auch dem Tod nicht mehr ins Auge sehen zu müssen. Wenn jemand der Meinung ist, daß er sich nach überstandener Krankheit aus Dank zu Gott bekennen soll, war die Krankheit und das Leid umsonst. Er bewegt sich weg von der Erfahrung der Todesnähe und dankt statt dessen Shiva, Vishnu oder der Mutter Gottes. Dadurch wird ihm Kraft entzogen. Eine tiefe Spiritualität bewährt sich gerade in einem tabulosen, offenen Umgang mit dem Tod, ohne ihm dabei zu große Bedeutung beizumessen. Es genügt, sich ihm zu stellen, wenn die Zeit gekommen ist.
VIII DER UMGANG MIT DEM TOD
Das Spirituelle kann nicht vom Tod losgelöst gesehen werden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod ist in unserer Kultur mit Ängsten verbunden. Nach Hellinger wird das Leben vom Tod isoliert betrachtet und als ein persönlicher Besitz gesehen, der maximal ausgenutzt werden muß. Doch man kann das Leben auch aus der Perspektive des Todes betrachten. Jeder Mensch wird kurzfristig vom Leben in Anspruch genommen, um bald wieder fallen gelassen zu werden. Am Ende des Lebens kehren wir in etwas zurück, über das sich keine Aussage machen läßt. Verglichen mit dem Sein und der Tiefe, aus der wir durch unsere Eltern gekommen sind, ist die Lebensspanne nur etwas Kleines und Vorübergehendes.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist der frühe Tod eines Kindes nichts Schlimmes. Sowohl der Mensch, der mit 85 Jahren stirbt, als auch das Kind, das nur ein Jahr alt wird, fallen beide zurück in jenes Sein, über das wir nichts wissen. Auf dieser Ebene sind sie gleich.
Unser tägliches Leben erhält Kraft, wenn wir es im Angesicht der Vergänglichkeit führen. Die Zeit, die man bis zum Tod hat, kann man als ein Geschenk betrachten. Mit dieser Einstellung läßt sich die Lebenszeit ganz anders ausfüllen, als wenn man sein Leben gegen den Tod durchsetzen will, als sei er uns feindlich gesinnt. Wenn wir ihn als Freund begreifen, blicken wir mit Gelassenheit auf die Vergänglichkeit. (SBK: 69) Mit dieser Einstellung können wir auch dem Tod in der eigenen Familie besser begegnen. Stirbt ein geliebter Mensch, ist es wichtig, daß er einen Platz in unserem Herzen bekommt. Die Würdigung des Toten hat eine gute Wirkung auf alle Mitglieder der Familie.
Die Ablösung kann gelingen, wenn wir den tiefen Abschiedsschmerz zulassen, statt ihm auszuweichen. Fliehen wir vor dem Schmerz, bleiben wir mit dem Toten tief verbunden und versäumen zu leben. Dazu ein Beispiel: Einer Frau war vor 20 Jahren der Mann gestorben, doch es schien, als sei der Tod des Mannes erst gestern eingetreten. Wenn sie von ihrem Mann erzählte, rannen ihr sogleich Tränen über die Wangen. Dem wirklich tiefen Schmerz ist diese Frau immer ausgewichen. Selbst das Zimmer des Toten blieb in allen Einzelheiten unverändert. Sie hatte den Tod ihres Mannes nicht angenommen. Es läßt sich nachvollziehen, daß die Frau keine neue Ehe oder Partnerschaft mehr eingegangen ist. Doch eine solche »Solidarität« nutzt weder dem Toten noch dem Lebenden.
Ein anderes Beispiel: Eine Frau, die schon auf die Vierzig zuging, hatte noch nie sexuellen Kontakt mit einem Mann gehabt. Als sie ein Teenager gewesen war, starb ihr innig geliebter Vater an einer schweren Krankheit. Damals weigerte sie sich, mit zur Beerdigung zu gehen. Sie wollte den Leichnam nicht sehen, weil sie glaubte, den Anblick nicht ertragen zu können. Dadurch hatte sie die Chance verpaßt, Abschied zu nehmen. Auch in den Jahren danach war sie kein einziges Mal auf dem Friedhof gewesen. Zwar genügte nach so langer Zeit die Erwähnung des Wortes »Vaters«, um heftiges Weinen hervorzurufen, doch handelte es sich nur um eine »sekundäre Trauer«. Dieses Weinen stärkt nicht, sondern es schwächt. Die Frau vermochte nicht den Satz zu sagen »Du bist tot, lieber Vater, ich lebe noch eine Weile, dann sterbe ich auch«. »Das Wort >tot< kann ich nicht aussprechen«, widersprach sie heftig. In der Tat: Nach so langer Zeit war für sie der Vater immer noch nicht im Grab. Sie lebte in Gedanken mit ihm, wie mit einem Lebenden, und es kann nicht wundern, daß kein anderer Mann eine Chance hatte. Zu einem späteren
Weitere Kostenlose Bücher