Was die Seele krank macht und was sie heilt
Frau tun. In Bach-Kantaten findet man Textstellen, in denen der Sopran singt: »Ich lege mich dem Heiland willig unter.« Die »Mystische Hochzeit« und die »Heilige Liebe« ist aber nach menschlichem Vorbild geschaffen.
Nach Hellingers Ansicht sind all diese Übertragungen von Menschlichem auf die Beziehung zu Gott fragwürdig. Der Zugang zum Religiösen gelingt nur - falls er überhaupt gelingen kann -, wenn alle diese Bilder aufgegeben werden. Wer damit Ernst macht, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Er bleibt vor dem Geheimnis stehen, ohne es ergründen zu wollen, und dadurch fließt ihm Kraft zu. Für den Umgang mit dem Religiösen hat Hellinger einmal zwei Bilder skizziert. Das eine Bild stellt einen Weg dar: Man geht auf ihm voran, indem man alles Bisherige hinter sich läßt. Das andere Bild lautet: Fis gibt überhaupt keinen Weg, denn alles Wesentliche ist gegenwärtig. (Podiumsdiskussion auf dem Psychotherapiekongreß 1996 in Wien) Das letzte Bild mag viele an Vorstellungen aus dem Zen-Buddhismus erinnern.
Sowohl im Zen-Buddhismus als auch auf vielen Wegen der Mystik werden religiöse Erfahrungen sofort hinter sich gelassen, weil sie vorläufig sind. Die Haltung des Mystikers lautet: Ich lasse jede Erfahrung hinter mir zurück und öffne mich für Unbekanntes.
Als Beispiel dafür sei aus dem tibetischen Buddhismus ein berühmter alter Meister zitiert:
Kein Gedanke,
Keine Reflexion ,
Keine Analyse,
Keine Absicht:
Laß es sich selber dartun. 28
von Meister Tilopa
Wenn jemand behauptet, eine religiöse Erfahrung gehabt zu haben, betrachtet Hellinger das mit äußerster Skepsis. In einem Seminar war einmal ein Mann, der an multipler Sklerose litt. Er war dabei, sich von seiner Familie zu lösen. Als junger Mann hatte er einen schweren Autounfall gehabt, bei dem er seinen Körper frei schwebend von oben betrachtet hatte. 29 Er konnte alles sehen, obwohl er bewußtlos war. Für ihn stand außer Frage, daß es sich bei dieser Erfahrung um ein religiöses Erlebnis handelte. Hellinger sagte zu ihm: »Du hast dich geweigert, auf die Erde zurückzukommen. Und die Wirkungen, die das für deine Familie hat, sind schlimm. Du bist völlig abgelöst.« (Podiumsdiskussion auf dem Psychotherapiekongreß 1996 in Wien) Für diesen Mann, so Hellinger, wäre die religiöse Handlung gewesen, zu dem ganz gewöhnlichen Tun zurückzukehren.
In Zeiten der Esoterik und des »New Age« ist es verbreitet, der Erfahrung religiöser Erlebnisse nachhelfen zu wollen. Wenn jemand meditiert, weil er spirituelle Erfahrungen machen möchte, wertet er Hellinger zufolge das Spirituelle ab. F> befindet sich im tiefsten Zwiespalt, denn er mißachtet etwas, das er erreichen will.
Dennoch spricht Hellinger der Meditation ihre Bedeutung nicht ab. Allerdings verstärkt sie seiner Ansicht nach nicht die spirituelle Haltung, sondern sie kann bei dem, der mit der Welt schon im Einklang ist , als etwas Natürliches eintreten, wenn er sich sammeln will. Die Meditation ist nicht der Weg, um in Einklang mit etwas Größerem zu kommen, sondern weil ich im Einklang mit dem Größeren bin, spüre ich zuweilen das Bedürfnis, mich zu sammeln. Dieses Sich-Sammeln ist allerdings nie losgelöst vom Handeln. Es dient zum Beispiel dazu, sich auf etwas Schwieriges vorzubereiten. Durch die Meditation kann mir das zufließen, was ich später zum Handeln benötige. Eine Meditation jedoch, die auf die Leere ausgerichtet ist, schwächt Hellinger zufolge, denn sie hat den Bezug zum gewöhnlichen Handeln verloren. Überall dort, wo sich jemand vom Gewöhnlichen absetzt, etwa im Sinne »Ich wende mich jetzt meiner Erleuchtung zu«, ist Hellinger das verdächtig. Für ihn steckt die Kraft im gewöhnlichen Tun: Was steht in einer Partnerschaft oder Ehe an? Was ist mit den Kindern, beruflichen Dingen? Wenn ich Meditierende anschaue, so Hellinger, »sind viele ganz leicht. Sie haben wenig (seelisches) Gewicht (...) verglichen mit jemandem, der in seiner harten Arbeit steht. Ein Bauer etwa, der morgens seine Kühe füttert und dann aufs Feld geht ... was hat der für ein Gewicht im Vergleich zu einem, der sagt: >Ich meditiere.<« (AWI: 66)
»Spirituell« und »esoterisch« sind für Hellinger nicht dasselbe. Das Esoterische ist ausgrenzend, während das Spirituelle in die Weite geht. Ein Esoteriker hält sich in der Regel für besser als andere Menschen, ein spiritueller Mensch dagegen nicht. Der Esoteriker will etwas herausfinden, um damit etwas tun zu können. Damit
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