Was die Seele krank macht und was sie heilt
ist jeder einzeln. Doch steht diese Form am Ende der religiösen Entwicklung des Menschen und ist mit einer hohen persönlichen Leistung verbunden. Insbesondere fordert sie den Verzicht auf die Geborgenheit der Gruppe (Podiumsdiskussion mit Tilman Moser und Fritz Simon, Heidelberg 1996).
Wer auf den tradierten Glauben verzichtet oder areligiös ist, hat nach Hellingers Erfahrung oft ein mitfühlenderes Herz als Menschen, die sich als Esoteriker bezeichnen oder einem bestimmten Glaubensbekenntnis anhängen. Als er in Südafrika gearbeitet hat, wunderte sich Hellinger des öfteren, »daß Leute, die keinem Glauben anhingen, so gute Leute sein konnten«. (AWI: 44) Zuvor hatte er die Vorstellung gehabt, daß nur der gut sein kann, der einen Glauben besitzt, denn der Glaube halte den Menschen aufrecht und bilde seine moralische Grundhaltung aus. Doch hat er eher das Gegenteil beobachtet.
Religion wird aber auch noch anders erlebt. Aus der Tiefe können zuweilen Einsichten aufsteigen, die etwas Erschreckendes haben: Man spürt eine Berufung, der man folgen muß, ohne den Zusammenhang mit dem Ganzen verstehen zu können.
Diese Erfahrung nennt Hellinger eine »religiöse Erfahrung«. Gegenüber solch einem Erlebnis muß man seiner Meinung nach äußerst zurückhaltend sein. Hält man zwischen der Erfahrung und dem sich dahinter verbergenden Geheimnis einen Abstand und distanziert man sich bis zum Äußersten von seinen Gefühlen und Erlebnissen, kann dem Betreffenden von außen her eine besondere Kraft zufließen. Für Hellinger ist dieser Einklang mit der Welt, wie sie ist, »ganz nah an der Erde« - nicht am Himmel. (Podiumsdiskussion auf dem Psychotherapiekongreß 1996 in Wien) Der Welt zuzustimmen, wie sie ist, zieht Schmerzen nach sich. Wieviel leichter ist es, auszurufen: »Wie kann ein gerechter Gott dieses Unglück zulassen?« Viele Menschen sind nämlich der Meinung, daß Gott, wenn es ihn tatsächlich gibt, ein gerechter Gott sein muß. Aber wer sagt, daß das stimmt? Genau betrachtet ist diese Umstellung nur ein Bedürfnis des Menschen. Das Geheimnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist vom Menschen nicht zu losen. Wenn ich mich dem stelle, so Hellinger, »ist die Wirkung, die es auf mich hat, eine viel tiefere, als wenn ich nach dem gerechten Gott rufe und ihn gerecht haben will-, (Hörfunksendung Bayern 2, 1996)
Wenn ich die Kriege, Massenvernichtungen, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen nicht als etwas Schlimmes verurteile, sondern mich in diese größeren Zusammenhängen füge, komme ich in eine Lage, in der ich aufhöre zu kämpfen. Auf diese Weise entsteht Einklang mit den Widersprüchen, und man sammelt sich innerlich. Paradoxerweise bietet manchmal gerade dieses Sichfügen die Gelegenheit, in der Welt etwas Gutes zu bewirken.
Die persönliche religiöse Entwicklung beginnt mit der Reinigung überkommener Bilder. Die wichtigsten bildlichen Vorstellungen, die wir von Religionen haben, sind Übertragungen aus menschlichen Erfahrungen. Zum Beispiel schauen wir Gott an wie Kinder einen Vater oder eine Mutter. Wir beten zu diesem Gott und vertrauen ihm, doch gleichzeitig fürchten wir seine übergeordnete Gewalt. Wir fürchten uns auch, Näheres über Gott herauszufinden, denn wir glauben, daß uns das nicht zusteht. Diese Haltung entspricht dem Eltern-Kind-Verhältnis.
Weit verbreitet ist die Vorstellung, man könne mit Gott verhandeln. Es gibt Menschen, die mit Gott einen Bund schließen, wie man auf irdischer Ebene im Wirtschaftsleben einen Vertrag schließt. Sie »zahlen« durch Gebete oder indem sie eine größere Summe Geldes für einen guten Zweck spenden. Dafür erhalten sie von Gott etwas, wie die Genesung von einer schweren Krankheit. Diesem Verhalten dient das schon früher besprochene Muster des menschlichen Austauschs als Vorbild. Auf der Ebene der Paarbeziehung oder der Ebene gleichberechtigter Wirtschaftspartner bedeutet dies: Jeder gibt und jeder nimmt, und dadurch gedeiht die Beziehung. Diese Vorstellungen führen dazu, daß der Tugendhafte zur Belohnung in den Himmel kommt, während dem Sünder nur der Gang in die Hölle bleibt.
Es gibt auch Menschen, die sich Gott gegenüber verhalten wie Eltern zu ihrem Kind. Sie rechnen ihm vor, was er alles falsch macht und was er besser machen müßte.
Eine weitere Übertragung von Menschlichem auf die Beziehung zu Gott ist die in der Mystik verbreitete Vorstellung, daß man mit dem göttlichen Geheimnis in Kontakt tritt, wie das Mann und
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