Was die Toten wissen
davon, wenn man so lange eine Lüge lebte?
»Entensauce«, sagte sie und achtete darauf, nicht zu aufgeregt zu sprechen. »Ich habe geglaubt, die kommt von den Enten, so wie die Milch von der Kuh. Ich dachte, wenn wir nur früh genug zum Gwynns Falls Park aufbrechen, würde ich Chinesen beim Entenmelken sehen. Ich stellte sie mir mit diesen Strohhüten vor – ach herrje, wir nannten sie bedauerlicherweise noch Kulihüte. Was waren wir doch für Rassisten damals.«
»Warum?«, fragte Seth. Sie mochte ihn, genauso wie Grace, fast gegen ihren Willen. Sie konnte die meisten Kinder nicht ausstehen, verabscheute sie sogar. Aber Kays Kinder waren irgendwie liebenswert, sie waren so aufrichtig, was sie von ihrer Mutter entweder geerbt oder gelernt hatten. Sie waren ebenso bemüht, es Kay recht zu machen, vielleicht eine Begleiterscheinung der Scheidung.
»Wir wussten es einfach nicht besser. Und in dreißig Jahren werdet ihr wahrscheinlich etwas Ähnliches jemand Jüngerem erzählen, der wiederum kaum glauben kann, was ihr damals gesagt, getan, getragen und gedacht habt.«
Sie sah es Seth an, dass er nicht überzeugt war, aber er war zu wohlerzogen, um ihr zu widersprechen. Seine Generation würde alles richtig machen, perfekt sein in jeder Hinsicht und jedes Geheimnis lüften. Sie hatten ja schließlich iPods. Es ließ sie anscheinend glauben, dass alles möglich war, dass sie fähig sein würden, das Leben zu steuern, wie sie ihre Musik steuerten und verwalteten, indem sie an dem kleinen Navigationsrädchen herumfummelten. Genau, Süßer, es ging einzig und allein darum, eine Riesen-Playlist zu erstellen. Was man wollte, wann man es wollte, immerfort.
»Wir sind in einer Stunde wieder da«, sagte Kay.
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Oder, wie Onkel immer sagte: »Geh mit Gott, aber geh.«
Als sie schließlich allein war, schaltete sie den Fernseher ein und zwang sich zehn Minuten lang, eine irrsinnig stumpfsinnige Sendung anzusehen. Kinder vergaßen immer etwas, malte sie sich aus, aber wenn man nach zehn Minuten noch umkehrte, musste es sich schon um etwas Lebenswichtiges handeln. Bei der zweiten Werbeunterbrechung schaltete sie den Computer im Wohnzimmer an. Kein Passwort, kein Passwort, kein Passwort , flehte sie, und tatsächlich gab es auch keins. Der lahme kleine Dell war für alle zugänglich. Sie würde Spuren hinterlassen, das ließ sich nicht vermeiden, aber wer würde auf die Idee kommen, hier nachzusehen? Sie überflog rasch ihren E-Mail-Eingang, sah nach, ob etwas Dringendes dabei war. Dann schrieb sie eine E-Mail an ihre Vorgesetzte, erzählte ihr von dem Unfall und dass in ihrer Familie – ungelogen, sie war ja ihre eigene Familie – ganz überraschend jemand erkrankt sei und sie deshalb so plötzlich hatte wegmüssen. Sie schickte sie ab und schloss danach sofort das E-Mail-Programm, falls ihre Vorgesetzte gerade online war und eine schnelle Antwort zurücksendete. Dann, obwohl sie wusste, wie riskant es war, tippte sie »Heather Bethany« bei Google ein.
H-e- nach zwei Buchstaben bot ihr Google an, wonach sie suchte. Also wirklich, diese neugierige kleine Kay. Sie hatte in den letzten Tagen eine ganze Menge recherchiert. Irgendwie empfand sie es als wohltuend, zu wissen, dass Kay nicht ganz so edel und hilfreich, dass sie zu gemeiner Neugier fähig war. Sie durchforstete die Chronik, um zu sehen, wo Kay sich herumgetrieben hatte, aber es waren nur die offensichtlichen Websites, die allgemein zugänglichen. Kay war zu den Beacon-Light -Archiven vorgedrungen, war aber vor der Gebühr zurückgeschreckt. Kein großer Verlust; die Geschichten kannte
sie praktisch auswendig. Da war die Seite mit vermissten Kindern, mit diesen schaurigen alten Fotos, den grundlegenden Sachverhalten. Und ein wirklich gruseliges Blog von einem Mann aus Ohio, der behauptete, den Bethany-Fall gelöst zu haben. Na dann.
Sie hätte sich so gewünscht, dass Kay als Sozialarbeiterin Zugang zu geheimen Regierungsakten mit vertraulichen Informationen hatte. Aber natürlich gab es solch eine Datei nicht, und hätte es sie gegeben, hätte sie sie schon längst aufgespürt und sich reingehackt. Sie hatte die bestehenden Datenquellen bereits vor Jahren ausgeschöpft.
Widerwillig verließ sie das Internet und schaltete den Bildschirm aus. Sie vermisste ihren eigenen Rechner. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich noch nie Gedanken über ihre Beziehung zu ihrem PC gemacht, sich nie eingestanden, wie viele Stunden
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