Was die Toten wissen
Wenn die erste Zigarette den Brand nicht auslöst, kann sie nicht noch eine werfen, weil wir das herausfinden würden. Stimmt’s? Sie muss darauf achten, dass die Nachbarn nichts mitkriegen …«
»Es war ja Weihnachten. Wer war denn da zu Hause?«
Tolliver ignorierte den Einwand. »Ich habe die Frau gesehen. Sie hätte nicht den Mumm, so was durchzuziehen. Die Feuerwehrleute mussten sie davon abhalten, noch mal ins Haus zu gehen.«
Aber sie war so geistesgegenwärtig gewesen, nicht ins Schlafzimmer zu stürmen, nachdem sie die heiße Klinke angefasst hatte .
Wieder zog Tolliver Rückschlüsse aus dem, was Infante nicht sagte. »Wenn der Selbstschutz einsetzt, sind bei einem Notfall viele Leute besonders ruhig und besonnen. Sie hat ihre eigene Haut gerettet, aber als ihr bewusst wurde, dass er noch da drin war, dass es für ihn zu spät war, flippte sie aus. Ich habe
den Notruf abgehört. Sie hatte Angst gehabt.« Ahangst . Und die Leute machten sich über Infantes angeblichen New Yorker Akzent lustig, der wirklich nur ganz schwach war.
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Das Haus ist unbewohnbar, dort kann sie nicht sein. Vielleicht in der Stadt, vielleicht ist sie weg. Sie kann machen, was sie will. Sie ist frei, weiß und einundzwanzig.«
Falls Infante diesen Spruch jemals zuvor gehört hatte, musste es in einem Film oder einer Fernsehsendung gewesen sein und sicher nicht erst kürzlich. Würde man so was heute zu einem Kollegen sagen, wäre es die Art von unbedachtem Ausspruch, die zu Besprechungen mit Mediatoren führte. Aber Tolliver schien gar nicht zu bemerken, was für einen schrägen Spruch er da losgelassen hatte. Fairerweise musste Infante zugeben, dass sein Vater oder Onkel bei Weitem Schlimmeres von sich gegeben hatten, und das ganz bewusst.
Als er das Waffle House verließ, fragte er sich, was Tony Dunham in den Süden geführt hatte, warum er sich hier niedergelassen hatte. Das Wetter war natürlich Grund genug. Und als Fernfahrer war es nicht so, dass der Typ von brennendem Ehrgeiz besessen war. Leute, die Anfang der Fünfziger geboren waren, gingen nicht alle automatisch aufs College. Selbst Schulabbrecher konnten in den Sechzigern gut über die Runden kommen, sofern sie in der Gewerkschaft waren. Nancys Überprüfung der Militärakten hatte ergeben, dass Dunham nicht bei der Armee gewesen war, aber es war nicht klar, ob er noch zu Hause gewohnt hatte, als Heather Bethany dort gewesen sein wollte. Sie hatte von niemandem sonst gesprochen. Dann wiederum hatte sie sowieso kaum etwas anderes als den Namen und die Adresse genannt. Wollte sie, dass sie die Verbindung zu Tony herstellten? Und wie passte Penelope Jackson ins Bild?
Fotos logen nicht: Die Frau in Baltimore war nicht Penelope, zumindest nicht die auf dem Foto im Führerschein. Aber wer
war sie dann? Was, wenn Penelope Heather Bethany gewesen war und diese Frau ihre Lebensgeschichte zusammen mit ihrem Wagen gestohlen hatte? Wo war dann Penelope? Er konnte nur hoffen, dass die Leute in der Reynolds Street seine geheimnisvolle Fremde kannten und ihm ihre Beziehung zu Dunham erklären konnten.
Die für die Südstaaten typische Gastlichkeit ließ eindeutig nach, als Infante sich auf der Reynolds Street nach Penelope Jackson und Tony Dunham erkundigte. Zugegebenermaßen hätte der erste Mann, der ihm begegnete, ihm vielleicht gern weitergeholfen, aber er sprach mehr Spanisch als Englisch, und der bloße Anblick von Infantes Polizeimarke ließ ihn verstummen. Dennoch nickte er, als er die Kopie von Penelope Jacksons Führerschein sah, und sagte: »Sí, sí, ist Miss Penelope.« Beim Anblick des Fotos der anderen Frau zeigte er keinerlei Anzeichen des Wiedererkennens. Die Nachbarin zur Rechten, eine untersetzte Schwarze, die fünf oder sechs Kinder hatte, stöhnte, als wollte sie sagen, sie hätte bereits so viel gesehen, dass es ihr reichte. »Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram und sie sich um ihren«, erwiderte sie auf die Frage, wo Penelope Jackson sein könnte.
Auf der anderen Seite des verkohlten blauen Hauses fuhr ein älterer Mann mit einem Rechen durch den gelb-grünen Rasen und harkte den Winterdreck weg. Nachdem er zuerst kurz angebunden und abweisend gewesen war, wurde er freundlicher, als ihm klar wurde, dass es sich um ein dienstliches Gespräch handelte.
»Ich sag’s ja ungern, aber ich seh mir lieber die verkohlten Überreste an, als dass ich mir die beiden zurückwünschen würde«, sagte Aaron
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