Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
– eine fehlende Vorsicht, die sich nicht mit Ungestüm erklären ließ, nein, in seinem Hirn fehlte eine winzige Verbindung oder Synapse an der Stelle, wo die meisten Leute ihre Impulse zügeln, wohl wissend, welche Auswirkungen diese auf andere hätten.
Dann, gerade als ich mich innerlich von ihm verabschiedete, alarmiert von meiner eigenen Einsicht in sein Verhalten, richtete er sich auf und trat von der Kante zurück. »Machen wir, machen wir …«, sagte er. Er brüllte nicht mehr, hielt mich immer noch von hinten fest umschlungen, das Gesicht in meinem Haar vergraben. Mit gedämpfter Stimme redete er weiter; ich hörte die Worte durch mein Haar. »Wir gehen über die Kante. Ich hab mich entschieden. Okay, okay?«
Er zog mich zurück, weg vom Klippenrand, drehte mich zu sich um und hielt mich dann auf Armeslänge von sich. Ich zitterte vor Kälte, Furcht und Fassungslosigkeit. Einen Moment lang starrten wir uns nur an – er hielt mich immer noch von sich. Ich schaute zurück, eine Frage in meinem Blick. Er nickte kaum merklich. Ich brach in Tränen aus.
Er warf den Kopf in der Nacken, lachte mich an, mit einem Mal wieder der alte David, schubste mich von sich weg, packte mich erneut und schüttelte mich leicht. »Das soll dich doch nicht zum Weinen bringen, L. D., sondern dich gefälligst glücklich machen!«
Hätte in dem Augenblick der Boden unter uns nachgegeben und uns beide ins Meer gestürzt, ich glaube, mein letzter Gedanke wäre gewesen, das sei es wert gewesen.
Der Wunsch meiner Mutter erfüllte sich. Sie sollte noch erleben, dass ich unter die Haube kam. Zu der Zeit war sie an den Rollstuhl gefesselt und konnte nicht mehr sprechen. Sie saß am Kopfende der Tafel, neben mir. Ein Krankenpfleger aus dem Heim war mitgekommen und kümmerte sich um sie, ein junger Schwarzer namens Ken, der ihr den Lachs mit der Gabel zerdrückte und sie mit starkem Glasgower Akzent unterhielt, während er sie mit dem Löffel fütterte. Er hatte etwas Bevormundendes, war aber durchaus freundlich. Er hatte zu Gott gefunden, und wie, und nahm meine Mutter sehr ernst.
Nach den Reden trat ein Onkel von David mit einer Klarinette vor und spielte eine ganz passable Version von Stranger on the Shore. David nahm meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche, einem Parkettrechteck in der Mitte der Tische, in einem Hinterzimmer des Milton Hotels; weiße Tischtücher, dicke Chintz-vorhänge, Türrahmen und Deckenleuchten mit breiten Schleifen dekoriert. Wie die meisten Räume in den meisten Hotels war es überheizt. In der Luft hing eine Mischung aus Tante Lorraines Parfum mit Moschusduft und einem Hauch der Zigarren, die sein Vater und ein Freund draußen auf der Terrasse geraucht hatten, bevor die Reden anfingen. Den ganzen Tag hatte ich auf das Gefühl von Enttäuschung gewartet, von Ernüchterung, doch stattdessen empfand ich nichts als überwältigende, befriedigende Erschöpfung, als David mich an sich zog. Ich überließ mich ihm, schmiegte mich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Er umschloss meine Hand mit seiner und hielt sie an die Brust, beugte sich dann hinab und küsste mich auf den Kopf. »Ich liebe dich, Laura«, flüsterte er: kein Sarkasmus, kein Frotzeln – sondern die Feststellung einer Tatsache, vertraut und schlicht. Nach und nach schlossen sich uns die Tanten und Onkel auf der Tanzfläche an, und der dudelnde Klarinettist dudelte melodiös weiter. Ich schloss die Augen und ließ mich von David in einem langsamen Schieber führen. Der Pfleger Ken umkreiste uns gemächlich mit meiner Mutter im Rollstuhl. David hielt mich fest an seine Brust gedrückt, als sollte mir nichts auf der Welt je wieder wehtun. Nicht zu fassen, dass er endlich mir gehörte.
2. Teil
Nachher
4
Drei Tage, seit meine Tochter von uns gegangen ist; mein Haus ist voller Menschen. Ich ertappe mich dabei, wie ich immerzu an Ranmali denke, hoffend und betend, sie möge nicht herkommen. Ranmali ist der letzte Mensch, der Betty lebend gesehen hat.
Ranmali und ihr Mann betreiben seit Urzeiten den Zeitungskiosk an der Fulton Avenue. Als nächster Laden an der Schule führt er neben Süßigkeiten und Zeitungen auch Milch und Brot; wir Mütter aus der Gegend begegnen Ranmali also mehrmals wöchentlich. Wenn wir nicht um 15.25 Uhr reingeschossen kommen, um auf die Schnelle das eine oder andere dringend Benötigte zu besorgen, kommen wir um 15.40 Uhr gemächlich angeschlendert und versuchen zerstreut, unsere Sprösslinge zu beruhigen,
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