Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
nachvollziehen, was er an ihr fand. Weil Brillen-Becky an einem Ballettkurs unmittelbar vor Bettys und Willows Stepptanzkurs teilnahm, hatte ich mit ihrer Mutter Miriam abgesprochen, dass ich Rebecca und Rees vom Kindergarten abholen, ihnen bei uns zu Hause etwas zu essen machen und dann mit ihnen zur Methodistenkirche gehen würde. Sally hatte ich gesagt, dass ich Willow nach dem Stepptanzkurs gern auf dem Rückweg mitnehmen könne, aber sie erschien trotzdem in den Kirchenräumen mit dem selbst genähten Turnbeutel mit Tanzsachen, den Willow am Morgen zu Hause vergessen hatte. Sie hatte ein kleineres Kind dabei, das ich nicht kannte, eine Nachbarstochter, die in Rebeccas Kurs reinschnupperte. Ich hatte den Verdacht, dass sie das als Vorwand benutzte, um ihre Tochter bei ihrer Ankunft in den Gemeideräumen zu erwarten.
Ich fing nicht ab einem bestimmten Zeitpunkt an, mir Sorgen zu machen, das baute sich eher langsam auf. Es wuchs, so wie sich der Himmel in der Abenddämmerung verdunkelt. Die Capoeira- AG war um halb fünf zu Ende, und ein Erwachsener würde von da zehn Minuten bis zum Gemeindesaal brauchen, aber die Mädchen mussten erst noch ihre Schulsachen zusammenpacken und würden dann quatschen und trödeln – vor zehn vor fünf erwartete ich sie gar nicht. Ihr Kurs fing um fünf Uhr an. Ich hatte mich auf die Möglichkeit eingestellt, dass sie sich verspäteten, aber das machte nichts, sie waren ja das erste Mal allein unterwegs. Sie übten noch.
Als es fünf Uhr war, dann fünf Uhr durch, wurde ich mir einer gewissen inneren Unruhe bewusst, wie bei einer Magenverstimmung. Ich hatte es gar nicht erst wahrhaben wollen, bis ich Sally ansah. Die Kleinen waren genau zu der Zeit mit ihrem Ballettkurs fertig geworden, zu der der Stepptanzkurs der Großen begann, und waren schon aus dem Saal in die Umkleide gepurzelt. Sally bemühte sich kniend, ihrer Nachbarstochter den blauen Wickelpulli auszuziehen. Gerade als ich in ihre Richtung blickte, schaute sie zu mir hoch, und wir sahen, wie sich unsere unausgesprochenen Gedanken gegenseitig in diesem kurzen, stummen Blick spiegelten. Selbst da gestanden wir einander nicht ein, nicht einmal durch unsere Mienen, dass etwas nicht stimmen könnte. Sie sah zuerst weg und wandte sich wieder dem Kind zu, dem sie half und das unglücklich wirkte. Ich hatte mit Rees etwas gemalt, und er war so fordernd geworden, dass ich es Rebecca überlassen hatte, sich allein umzuziehen. Sie kniete mit ihrer Balletttasche vor mir und faltete fein säuberlich ihr Trikot, unbeirrt von meiner Unaufmerksamkeit. Erst als Sally ihren Schützling fertig umgezogen hatte, kam sie zu mir und sagte leichthin: »Wird’n bisschen spät. Sie werden das Aufwärmen verpassen. Ob ich ihnen entgegengehe?«
Ich wollte nicht zugeben, dass die Notwendigkeit bestand. »Vorige Woche sind sie erst sehr spät rausgekommen.« Das stimmte. Vor einer Woche hatte ich nach der Capoeira- AG zwanzig Minuten draußen im Regen gestanden und gewartet. Erst sei die AG überzogen worden, sagten sie, als sie endlich mit geröteten Wangen angerannt kamen, und dann habe Willow ihre Jacke nicht finden können.
Sally nickte, obwohl ich sehen konnte, dass sie anderer Meinung war. »Na gut, warten wir noch etwas ab.« Sie ging zu ihrem Nachbarskind zurück und half ihm, die Tanzsachen in ihre Tasche zu packen. Die Unterlippe des Kindes zitterte, und ich vermutete, dass es Sallys Idee gewesen war, sie herzubringen, und dass das Kind selbst – und vielleicht auch die Nachbarin – alles andere als begeistert war. Im Gegensatz dazu schien mein Schützling Rebecca über ein schon fast unnatürliches Maß an Selbstbeherrschung zu verfügen. Kaum war ihre Tasche gepackt, zog sie unaufgefordert Jacke und Schuhe an, setzte sich ordentlich auf einen hohen Stuhl und wartete auf mein Signal zum Aufbruch. Unterdessen hatte Rees seine Malversuche satt und sich vorgenommen, während ich die Filzstifte aufhob, wie ein Zwergnilpferd durch die Umkleide zu toben, dass die Ballettschühchen nur so um ihn her stoben. Die anderen Mütter schossen Hast-du-ihn-etwa-nicht-unter-Kontrolle-Blicke in meine Richtung ab. Bald würde es Tränen geben.
Sally wurde mit dem Einsammeln und Trösten ihres Nachbarskindes fertig, kam zu mir und sagte: »Und wenn ich einfach mal nachgucken gehe, ob sie schon kommen?« Sie betonte es nicht wie eine Frage. Ehe ich Einspruch anmelden konnte, sagte sie zur Kleinen: »Ich geh nur mal eben nachsehen, ob Willow und ihre
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