Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
EEG-Gehirnschreiber und Röntgenaufnahmen.
Aus einem der Krankenzimmer kam eine der Schwestern. Emily kannte sie von ihrem letzten Termin.
»Nehmen Sie ruhig schon in Behandlungszimmer zwei Platz, Mrs. Bloom.«
Emily ging an den Plakaten und Fotodrucken des langen kalten Flures entlang und öffnete die letzte Tür auf der rechten Seite. Es war das Behandlungszimmer mit dem großen bequemen Kippsessel, in dem sie schon mehrmals während der neurologischen Sitzungen gelegen hatte.
9.05 Uhr. Schon während der Begrüßung war Professor Riddington auf seinem Schreibtischstuhl an ihren Kippsessel herangerollt, sodass sie sich jetzt direkt gegenübersaßen.
Emily spürte das Zittern ihrer gefalteten Hände auf den Knien. Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm. Er war Anfang fünfzig und nicht unattraktiv. Seine Stimme hatte einen jugendlichen Klang, der beruhigend wirkte.
»Bleiben Sie ganz entspannt, Mrs. Bloom! Hören Sie einfach nur zu.« Er machte eine kleine Pause, bis sie sich etwas beruhigt hatte. »Wir haben nun also ein Ergebnis. Und es ist tatsächlich ein Phänomen, das es so erst wenige Male gegeben hat, zuletzt bei einer Frau in den USA …«
»Was heißt das?«, fragte sie zaghaft. »Ist es eine Krankheit?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nein. Ganz im Gegenteil – ich würde sagen, es ist eher ein besonderes Geschenk der Natur.«
Mit leiser Stimme fragte sie: »Was bedeutet das genau?«
»Nun, wir haben ja in der vergangenen Woche darüber gesprochen, dass es in jedem menschlichen Gedächtnis Regionen gibt für die Speicherung von Faktenwissen und Regionen für das episodisch-autobiografische Wissen. Letztere sitzen in der rechten Gehirnhälfte.«
Sie nickte. »Ich erinnere mich.«
Er quittierte ihre Bemerkung mit einem kleinen Schmunzeln. »Daran habe ich nicht gezweifelt.« Dann wurde er wieder ernst und wandte sich dem umfangreichen Gutachten zu. »Wir wissen nun: Das episodische Erinnern ist bei Ihnen offensichtlich von Geburt an in einem Maße ausgeprägt, wie man es bisher kaum für möglich gehalten hat. Unsere neuropsychologischen Tests haben das ebenso erwiesen wie sämtliche andere Untersuchungen. Kurz: Ihre Gedächtniskapazität – und wir reden ausschließlich über das Langzeitgedächtnis – sprengt jedes bisher gekannte Maß.«
Mühsam versuchte sie, sich auf Professor Riddingtons Ausführungen zu konzentrieren. Seine hohe Reputation als international angesehener Hirnforscher war unumstritten. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er auch in ihrem Fall die richtigen Schlussfolgerungen zog.
Behutsam begann er ihr klarzumachen, warum sie im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig war. Sie besaß die ungewöhnliche Fähigkeit, sich detailgenau an die Abläufe jedes einzelnen Tages zu erinnern, den sie jemals erlebt hatte.
Der 5. Mai vor sieben Jahren? Kein Problem für Emily. Ohne Zögern konnte sie sagen, dass sie sich damals mittags um Viertel nach zwölf mit ihrer Freundin Helen zum Essen im Bistro Central getroffen hatte, was sie gespeist hatten und dass es in ihrem Gespräch um Helens neuen Liebhaber gegangen war. Am Nachbartisch hatten drei junge Banker in schwarzem Anzug und dunkelblauer Krawatte gesessen.
Der 30. April 1983? Eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Schwager Harold Conway, der behauptet hatte, Emily würde sich zu wenig um ihre Schwiegereltern kümmern. Jedes Wort dieser Diskussion wusste sie noch, als sei es gestern gesagt worden. Ihr Gehirn war ein Kalender mit sämtlichen Eintragungen aller dreihundertfünfundsechzig Tage eines Jahres, jederzeit abrufbar nach Terminen und Ereignissen.
»Am erstaunlichsten in Ihrem Fall«, fuhr Professor Riddington fort, »ist für uns aber die komplette Vernetzung ihrer situativen Erinnerung mit den Einzelerinnerungen Sprache, Geruch und Raumerlebnis. Alle Tests, die wir in den vergangenen Wochen gemacht haben, konnten das bestätigen.«
»Ich habe es befürchtet«, sagte Emily so ruhig wie möglich. Sie wusste, es hatte keinen Zweck mehr, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass sie anders war als andere Menschen.
Sie war selbst oft genug erschrocken gewesen über dieses Phänomen. Denn nicht nur längst vergangene Begegnungen und Gespräche konnte sie jederzeit wie Filmaufnahmen wieder vor ihren Augen und in ihren Ohren lebendig werden lassen, sie erinnerte sich auch problemlos daran, wo und wann ihr bestimmte Gerüche und Düfte in einem Raum begegnet waren, welchen Klang einzelne Stimmen besaßen
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