Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was du nicht weißt: Roman (German Edition)

Was du nicht weißt: Roman (German Edition)

Titel: Was du nicht weißt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Beling
Vom Netzwerk:
oder welche Kleidung sie selbst oder andere zu irgendeiner Gelegenheit getragen hatten.
    Mit zwölf Jahren hatte es angefangen, und es hatte nie mehr aufgehört. Es war Fluch und Segen zugleich. Warum, fragte Emily sich in diesem Moment verzweifelt, hatte es ausgerechnet sie treffen müssen? Ihre Schwester Edwina hatte ein ganz normales Gedächtnis.
    Sie brauchte jetzt dringend eine Pause. »Können wir einen Augenblick unterbrechen?«, fragte sie.
    »Kein Problem«, sagte Professor Riddington. »Gehen Sie ruhig eine Viertelstunde an die frische Luft.«
    9.42 Uhr. Aufgeregt ging Emily auf dem Parkplatz hin und her. Was sie gerade erfahren hatte, war nur schwer zu verdauen, auch wenn sie das meiste davon ja schon geahnt hatte. Sie beschloss, Richard anzurufen. Mit wem sollte sie darüber reden, wenn nicht mit ihrem Mann? Mit blassem Gesicht klopfte sie an das Glashaus des Pförtners und bat darum, kurz ein Ortsgespräch führen zu dürfen.
    Als Richard nach langem Klingeln endlich ans Telefon kam, wirkte er merkwürdig unkonzentriert, als sei er gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Atemlos berichtete sie ihm, was der Professor ihr mitgeteilt hatte. Natürlich erwartete sie, dass er ihr irgendetwas Tröstliches sagte, doch stattdessen zögerte er einen Moment und meinte dann in sachlichem Ton: »Klingt irgendwie beängstigend … Vielleicht musst du doch noch einen anderen Fachmann fragen.«
    Sie war irritiert. »Ist irgendwas, Richard?«
    Seine Stimme nahm einen gereizten Ton an. »Nein, wieso? Ich frühstücke gerade.«
    Enttäuscht beendete sie das Gespräch.
    10.00 Uhr. Sie lag wieder auf Professor Riddingtons weißem Kippsessel. Mit ängstlichen Augen schaute sie den Arzt an und stellte ihre wichtigste Frage. »Was kann ich tun, um diese Fähigkeit wieder loszuwerden? Geht das überhaupt?«
    Professor Riddington schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein, im Gegenteil. Es könnte sogar sein, dass Sie mit fortschreitendem Alter manche Erinnerungen noch intensiver, noch farbiger und noch nachdrücklicher speichern werden. Die guten Erfahrungen, aber auch die schlechten.«
    Verzweiflung und plötzliche Furcht vor ihrem eigenen Körper stiegen in Emily hoch. Sie spürte, wie ihre Haut glühte. Ohne dass sie es selbst merkte, wurde ihre Stimme lauter und angestrengter, als könnte sie das Problem mit Worten aus der Welt schaffen.
    »Aber es muss doch Strategien geben, meinen Kopf von all diesen Dingen wieder zu befreien! Hypnose, psychoanalytische Behandlungen, was weiß ich … Nennen Sie mir einen Weg, und ich werde ihn gehen!«
    Professor Riddington ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass es falsch wäre, sie jetzt zu schonen. Nur wenn sie die vollständige Wirkungsweise der so ungewöhnlich ausgeprägten Amygdala-Region ihres Gehirns und des Hippocampus begriff, konnte sie ihr Leben neu einrichten.
    »Lassen Sie es mich so erklären«, sagte er so sachlich wie möglich, »Ihre Erinnerung ist wie ein Film, von dem bei jedem Löschen automatisch eine neue Kopie hergestellt wird, ohne dass Sie etwas dagegen tun können. Das Vergessenwollen ist eine Sisyphusarbeit – Sie können sie niemals vollenden, sosehr Sie sich auch bemühen, während der gewaltige Felsen des Erinnerns immer größer wird.«
    Emilys Stimme zitterte. »Und wie soll ich damit fertig werden? Sagen Sie es mir!«
    Er hob beschwichtigend die Hand. »Aber Mrs. Bloom! Es ist doch nicht nur eine Last, wie Sie jetzt denken. Es ist auch ein großes Geschenk. Vergessen Sie das nicht. Sie sind jetzt achtunddreißig, sie haben noch viele Jahre vor sich. Die meisten Menschen sehnen sich nach einer so ungewöhnlichen Fähigkeit, wie Sie sie besitzen. Nie mehr zu vergessen erscheint uns wie ein Abbild der Unsterblichkeit. Das gelebte Leben – für immer festgehalten.«
    Langsam begann sie zu begreifen, was diese Sätze bedeuteten.
    Ihr bisheriges Leben, aber auch ihr zukünftiges erschienen ihr plötzlich in einem neuen, erschreckend grellen Licht. Dass die alltäglichen, harmlosen Erinnerungen stets präsent waren in ihr, damit konnte sie seit Langem gut leben. Es waren Gedächtnisfetzen, die sie wie andere Menschen auch ganz nebenbei für ein anregendes Gespräch benutzte: Erinnerungen an empfundene Zärtlichkeiten und unvergessene schöne Stunden, aber auch an einen kleinen Streit mit Richard und die anschließende romantische Versöhnung. Daran dachte sie gern.
    Doch was war mit den schlimmen Erinnerungen?
    Mit den

Weitere Kostenlose Bücher