Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
ihr ein Zeichen, dass sie schon einmal allein weitergehen wollte. Am Ende der Straße leuchtete das verschnörkelte goldfarbene Firmenschild von Adrians Ceylon Tea Room in der Sonne.
Debbie war so konzentriert auf ihr Telefonat, dass sie nur flüchtig die Hand hob, sich dann gleich wieder wegdrehte und weiterredete.
Nachdenklich steuerte Mrs. Bloom auf den Tea Room zu. Sie war ernsthaft in Sorge. So aufgeregt hatte sie Debbie noch nie erlebt. Vielleicht sollte ich dieses gebrochene, ziellose Geschöpf einmal zu mir nach Hause einladen, dachte sie mit mütterlichem Instinkt. In gewisser Weise war sie das Debbies Mutter schuldig.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie Debbie mit dem Telefon am Ohr erregt hin und her gehen.
Die Nacht war merkwürdig fahl und still, was auf Jersey nicht oft vorkam. Normalerweise sorgte nach Sonnenuntergang eine kühle Brise für klare Luft, während der Mond reflektierende Lichter auf die Oberfläche des Meeres zauberte. Dadurch wurde es auf der Insel nie ganz dunkel, es sei denn, es war gerade Neumond und ein Wetterwechsel stand bevor. Doch diesmal war die Mondsichel schon seit Stunden von einem Ring aus Nebel umgeben, und das war immer ein schlechtes Zeichen.
Emily Bloom wachte schweißgebadet auf. Ihre Albträume waren zurückgekehrt, und sie hatte im Schlaf geschrien. Ein paar Wochen lang hatte sie Ruhe gehabt, doch jetzt gewann ihr aufdringliches Gedächtnis wieder die Oberhand. Sie hatte es kommen sehen. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Albträume diesmal ausgeblieben wären.
Das schweißnasse Nachthemd klebte ihr an der Haut. Emily setzte sich auf, knipste das Licht an und nahm die Uhr vom Nachttisch.
Kurz nach zwei.
Oh, mein Jubiläum hat begonnen, dachte sie selbstironisch, während sie sich wieder auf ihr zerwühltes Kopfkissen zurücksinken ließ.
Heute, am 23. Juni, auf den Tag genau vor zwölf Jahren, hatte sich ihr Leben verändert.
Ein schwarzumränderter Tag. Einer, der alles verändert hatte.
Bis heute wunderte sie sich, dass sie damals nicht daran zerbrochen war. Es musste ihr angeborenes positives Naturell gewesen sein, dass sie vor Schlimmerem bewahrt hatte.
6.45 Uhr, eine Viertelstunde bevor ihr Wecker geklingelt hätte, war sie aufgewacht. Richard bekam mit, wie sie aus dem Bett schlüpfte. Er öffnete kurz die Augen, wünschte ihr mit heiserer, verschlafener Stimme für ihren Termin alles Gute, drehte sich dann wieder um und schnarchte sofort weiter. Nachdenklich blieb Emily am Fußende des Bettes stehen und schaute ihren Mann lange an. Sie hatte gespürt, dass er in den vergangenen Jahren immer egoistischer geworden war. Aber dass er sich nur noch so wenig interessiert zeigte an ihrem Schicksal, war ein Schock für sie.
Als um 7.30 Uhr der Verkehrsbericht auf BBC Jersey lief, saß sie am Küchentisch und frühstückte. Draußen war es verdächtig windstill. Die gezackten Blätter des hohen Ahorns vor dem Fenster hingen so unbeweglich an den Ästen, als wären sie gar nicht echt. Auch das Meer – von der Küche aus als tiefblauer Streifen über dem Rosenbeet zu erkennen – schien sich kaum zu rühren, was ungewöhnlich war für einen Morgen an der Küste von Jersey. Lustlos kaute Emily auf einem aufgewärmten Croissant herum.
Noch vor zwei Tagen hatte sie im Garten fröhlich ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, heute dagegen war ihre schöne Unbeschwertheit verschwunden. Schon während der ganzen Nacht hatte ihr Unterbewusstsein sie wie eine tickende Zeitbombe daran erinnert, dass ihr an diesem Vormittag der Termin im Krankenhaus bevorstand. Um neun Uhr wurde sie von Professor Riddington im General Hospital in St. Helier erwartet. Und sie machte sich nichts vor – diese Schlussbesprechung würde ihr ganzes weiteres Leben verändern.
7.50 Uhr, noch Zeit für ein paar Zeilen an Jonathan, ihren sechzehnjährigen Sohn, falls sie wider Erwarten doch ein oder zwei Tage im Krankenhaus bleiben musste. Jonathan war auf Klassenfahrt in Frankreich. Emily wollte vermeiden, dass er wiederkam und keinen Gruß von ihr vorfand, denn Richard hatte ab morgen die Steuerprüfer in der Zentrale seines Teegroßhandels und würde voraussichtlich für mehrere Tage ausfallen.
8.53 Uhr. Emily trat beklommen aus dem Fahrstuhl. Die Station für Neurologie war ihr inzwischen halbwegs vertraut. Fünf neuropsychologische Gedächtnistests waren dem heutigen Termin bereits vorausgegangen, fünf Tage voller irritierender Fragen, Versuchsreihen mit einem
Weitere Kostenlose Bücher