Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
Untersuchungshaft.«
Vor der Küste zog die 11-Uhr-Fähre nach Guernsey vorbei.
Emily Bloom hob wieder ihr Marinefernglas vor die Augen. Was war das? Zwischen Fähre und Bucht trieb eine längliche Gestalt im türkisblauen Wasser dahin. Im Rhythmus der Wellen schwebte sie auf und ab, minutenlang, ohne sich zu bewegen. Wenn es sich dabei um eine Kegelrobbe handelte, wie Emily vermutete, war es der faulste Seehund, den sie je gesehen hatte.
Plötzlich schossen zwei Möwen zur Wasseroberfläche herab. Die Robbe schien darüber verärgert zu sein. Mit platschendem Flossenschlag tauchte sie ab. Wahrscheinlich verließ sie die Bucht, um woanders ihr Vergnügen zu suchen.
Das Rauschen der Brandung und die Schreie der Seevögel drangen bis zu den hohen Klippen hinauf, wo sich Emilys Ausguck befand. Sie saß auf einer hölzernen Plattform, die eigentlich den Ornithologen für ihre Arbeit diente, gut versteckt zwischen mannshohen Farnen und dichten Stechginsterhecken. Aus lauter Gefälligkeit hatte sie sich vom Leiter der Société Jersiaise dazu überreden lassen, bei der diesjährigen Zählung der Robben und Delfine vor der Küste auszuhelfen.
Inzwischen bereute sie ihre Hilfsbereitschaft heftig. Als Energiebündel war sie für stillen Naturidealismus einfach nicht geeignet. Es machte sie ganz kribbelig, stundenlang wie eine Statue im Gebüsch hocken zu müssen und sich nicht bewegen zu dürfen. Außerdem erinnerten sie die Fliegen und Käfer auf ihrem Gesicht auf unangenehme Weise an ihre Zeit als Pfadfinderin. Dennoch zog sie pflichtbewusst ihr Notizbuch aus der Tasche ihres Anoraks und notierte aus dem Gedächtnis Größe, Eigenart und Fellzeichnung der Robbe. Es war schon ihre dritte Begegnung mit einem Seehund an diesem Vormittag. Die Flut stand günstig. Mit dem einströmenden Wasser war sogar für kurze Zeit die majestätisch dahingleitende Rückenflosse eines Delfins aufgetaucht.
Emily war zufrieden. Sie hatte das Gefühl, für heute ihre wissenschaftliche Pflicht getan zu haben. Es war jetzt kurz vor zwölf, spätestens um eins wollte sie wieder in ihrem Teeladen hinter der Theke stehen und Tim ablösen. Nach Richards Verschwinden vor siebzehn Jahren hatte sie den Importhandel mit Tee notgedrungen aufgeben müssen. Jetzt führte sie nur noch das kleine, aber traditionsreiche Teegeschäft in St. Aubin weiter.
Vor der Bucht tuckerte ein rotes Fischerboot mit hochgezogenen Netzen vorbei, begleitet von einem Schwarm Möwen. Sie betrachtete das pittoreske Bild. Vielleicht hatte es ja doch nicht geschadet, nach einer schlaflosen Nacht hier draußen ein wenig Ruhe zu finden. Sie packte alles zusammen und machte sich auf den Rückweg. Es ging immer bergab.
Plötzlich raschelte es neben ihr im Dickicht. Erschrocken blieb Emily stehen und wartete ab. Hechelnd brach ein riesiger grauer Wolfshund durch die gelben Büsche und machte schwanzwedelnd vor ihr Halt.
»Mein Gott, Titus! Hast du mich erschreckt!«, sagte sie erleichtert. Obwohl sie wusste, dass er harmlos war, fand sie es nicht richtig, dass ein solches Ungetüm frei herumlief, Kaninchen jagte und Leute erschreckte.
Auf gut Glück rief sie: »Mr. Rondel, wo stecken Sie?«
»Hier!«
Schon im selben Moment kam James Rondel, ein kräftiger, rotgesichtiger Mann, neben den untersten Ästen einer Buche zum Vorschein. Heftig atmend blieb er stehen. Ihm gehörten die Wiesen an diesem Küstenstreifen. Amüsiert stellte Emily fest, dass er im selben Rhythmus hechelte wie sein Hund.
»Entschuldigung, Mrs. Bloom, wir wollten Sie nicht erschrecken …«, er schnappte nach Luft, »aber Titus sollte nur mal schnell ein paar Runden laufen.«
Mit mildem Tadel in der Stimme antwortete Emily: »Ich möchte Sie ja nicht belehren, Mr. Rondel, aber im Moment brüten eine ganze Menge Vögel hier oben. Das muss ich Ihnen als Jäger doch nicht sagen.«
»Ausnahmesituation«, sagte Rondel schnaufend und zog demonstrativ an seiner Krawatte. »Ich komme gerade von einer Tauffeier bei Bouilly Port.«
Emily musterte ihn erstaunt. Also deshalb trug er heute keine Jagdkleidung, sondern ein dunkles Jackett und eine schwarze Krawatte. So hatte sie ihn noch nie gesehen.
Titus legte sich mit einem langen Seufzer ins Gras und streckte die Beine von sich. Emily, die keinerlei Erfahrung mit Hunden hatte, fragte sich, wie man jemals wieder den Schlamm aus dem verkrusteten Fell herausbekommen würde.
»Wer hat denn in Bouilly Nachwuchs bekommen?«, fragte sie interessiert.
»Frederic
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