Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
gedrückt, sodass dieser jetzt wie eine armdicke Stange hingestreckt im Gras lag. Sein Wurzelballen ragte in die Luft.
Emily eilte zur Unfallstelle. Die etwa neun Fuß hohe Esche war erst heute Morgen vom Gemeindegärtner in die Alleelücke eingesetzt worden. Inständig betete sie, dass der biegsame Stamm den Vikar vor einem schlimmeren Aufprall bewahrt hatte.
Als sie näher kam, sah sie, wie Godfrey Ballard tatsächlich unversehrt aus dem Auto kletterte. Er war blass, und er zitterte. Seine Finger nestelten am Kragen herum, als bräuchte er dringend Luft.
»Geht es Ihnen gut, Godfrey?«, rief sie, während sie zu ihm die Böschung hochkletterte.
Der Vikar nickte zwar, doch er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Kühlerhaube sah aus wie eine Ziehharmonika. Zischend strömte Wasserdampf aus dem Motorraum.
»Lassen Sie mal sehen …«, begann Emily.
Entschlossen nahm sie sein Kinn in die Hand und ließ ihren Blick prüfend über sein Gesicht wandern. Tatsächlich hatte er nicht den kleinsten Kratzer abbekommen. Sein himmlischer Arbeitgeber musste ganze Heerscharen von Engeln für den Vikar bereitgestellt haben.
Sie ließ ihn wieder los.
Wie ein Häufchen Elend stand er vor ihr. »Was hab ich nur getan, Mrs. Bloom?«, stammelte er. »Wir hatten doch alle so gute Laune … nach der Taufe … Und ich bin doch gar nicht so schnell gefahren …«
»Na ja, darüber reden wir später mal, in einer stillen Stunde«, sagte Emily mütterlich und streichelte ihm beruhigend über die Schulter. Es hatte keinen Sinn, Godfrey jetzt die Leviten zu lesen. »Können Sie laufen?«
»Ja …«
»Gut. Dann bringe ich Sie jetzt erst mal nach Hause, und danach rufen wir den Abschleppdienst und den Gemeindegärtner an.«
»Danke, Mrs. Bloom.«
Er begann, die Böschung hinunterzuklettern. Um nur ja nicht auszurutschen, breitete er dabei beide Arme aus, wie ein Seiltänzer.
Emily blieb noch einen Augenblick neben dem Autowrack stehen und betrachtete den Schaden. Die junge Esche lag zum Teil unter der Stoßstange, die meisten Äste und die frischen grünen Blätter waren von den scharfen Kanten des Autoblechs abgetrennt worden.
Wo die Wurzel des Baums gesteckt hatte, klaffte jetzt ein großer Krater. Die Erde darin war locker, und in der Mitte des Lochs schauten drei kräftige weiße Wurzeln aus dem Erdreich hervor.
Irgendetwas irritierte Emily an diesem Bild.
Sie zog ihre Lesebrille aus der Tasche, setzte sie auf und beugte sich tief über das Loch, um sich die merkwürdigen Wurzeln etwas genauer anzusehen.
Was sie erblickte, war so furchtbar, dass ihr augenblicklich übel wurde: Es waren gar keine abgetrennten Wurzeln, sondern drei menschliche Finger, blass, erdverkrustet und mit rot lackierten Nägeln. Auf einem der Finger saß ein schmaler silberner Ring mit einem stilisierten Blattmuster. Emily hatte ihn schon einmal gesehen. Sie fühlte, wie ihr Magen rebellierte und wie ihr ganzer Körper von Entsetzen gepackt wurde.
»Mrs. Bloom! Jetzt kommen Sie doch endlich …«
Godfrey Ballards Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte sich um. Schwankend und mit zerzausten Haaren stand er unten auf der Straße, die Hände in den Talar gekrallt, der in Höhe der Knie zerrissen und schmutzig war.
»Ich bin gleich bei Ihnen!«, rief sie ihm zu.
»Was machen Sie denn da so lange?«
Es schien, als hätte er unter dem Einfluss des Alkohols schon wieder vergessen, wer den ganzen Schaden angerichtet hatte. Sie musste ihn irgendwie loswerden. »Gehen Sie ruhig schon mal ins Pfarrhaus vor, Godfrey, ich komme gleich nach!« Emily hoffte inständig, dass er nicht weiter nachfragte und einfach tat, was sie sagte.
Ihre Hoffnung erfüllte sich. Er nickte gehorsam, murmelte ein paar unverständliche Worte, drehte sich schwerfällig um und marschierte torkelnd auf den Friedhof zu, dessen Grabkreuze schon zu sehen waren. Bald war er hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Es wurde still im Wald.
Emily beugte sich wieder zu dem Loch hinunter. Es kostete sie große Überwindung, sich dem grausigen Fund noch einmal zuzuwenden. Doch es musste sein. Irgendetwas tief in ihrem Innern zwang sie dazu. Sie musste sich vergewissern, dass sie mutig genug war, ihrer Furcht vor dem Speichern dieser schrecklichen Eindrücke entschieden zu begegnen.
Vorsichtig begann sie, mit ihren Händen die Erde rund um die drei Finger zu lockern. Millimeter um Millimeter entfernte sie den Boden, bis zuerst eine schmale weibliche Hand zum
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