Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
Vorschein kam und dann das Gesicht eines Menschen. Die Augen geschlossen, die Nase gerade und eine Stirn, auf der wie ein paar Federn kurze blonde Haare klebten.
Es war das Gesicht von … Debbie Farrow!
Fluchtartig rannte Emily auf die Straße zurück. Ihr Herz klopfte einen rasenden Takt, während sie sich verzweifelt nach Hilfe umschaute. Doch weit und breit war niemand zu sehen.
Sie war allein mit der Toten.
Einsam stand sie da. Der Wind wehte ihr ein paar Haarsträhnen vor die Augen. Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch ihre Lesebrille trug. Mit zitternder Hand nahm sie sie ab, steckte sie ein und schob die Haare zur Seite. Auf einmal kam sie sich erschöpft und gealtert vor. Sie wusste, der Anblick von Debbie Farrows bleichem Totengesicht war für immer in ihrem Gedächtnis gespeichert.
Aber das spielte jetzt keine Rolle.
Ungeduldig zerrte sie ihr Handy aus dem Anorak und wählte die Nummer der Polizei in St. Aubin.
Eine junge Polizistin meldete sich.
Emily atmete so schnell, dass sie Mühe hatte, verständlich zu sprechen. »Hier ist Emily Bloom«, sagte sie, »ich möchte den Chef de Police sprechen.«
Sie hatte ihren Ex-Schwager lange nicht gesehen und war überrascht, wie militärisch er jetzt aussah. Natürlich lag das vor allem an seinen kurzen Haaren, die früher eher rötliche Kräusellocken gewesen waren, doch auch sonst schien er seine Rolle als Polizeichef betont drahtig ausfüllen zu wollen.
Harold Conway stand immer noch breitbeinig vor dem Erdloch und starrte auf das Gesicht der Toten, als könnte er schon darin den Hergang des Verbrechens genau ablesen. Er ist eben immer noch ein aufgeblasener Wichtigtuer, dachte Emily erzürnt. Sie wusste, dass manche Jersianer die ehrenamtlichen Polizisten Hobby Bobbies nannten, was allerdings ziemlich ungerecht war, denn ihre Arbeit war wichtig und unentbehrlich. Doch auf Harold, so fand sie, traf diese ironische Bezeichnung voll und ganz zu.
Er kletterte von der Böschung zu ihr herunter und sagte mit finsterem Blick: »Der zweite Mord in drei Tagen! Furchtbar, eine so hübsche junge Frau.«
»Ja«, stimmte Emily ihm traurig zu. »Es ist schrecklich. Ich bringe es auch nicht fertig, nochmal hinzuschauen.«
»Dann hoffen wir nur, dass du mit deiner Rumkratzerei am Tatort nicht alle Spuren vernichtet hast.«
Emily musste sich sehr zusammennehmen, um ihn nicht anzufahren. »Entschuldigung, Harold, aber wenn ich das nicht getan hätte, würdet ihr jetzt gar nicht hier stehen! Meinst du, das war angenehm für mich? Ich kannte das Mädchen schließlich.«
Genervt winkte er ab. »Ist ja gut, Emily. Ich bin dir ja auch dankbar für deine … Unterstützung. Du konntest schließlich nicht wissen, dass wir schon seit heute Morgen nach Debbie Farrow gesucht haben.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Sie ist …«, er korrigierte sich, »sie war eine wichtige Zeugin in einem Betrugsfall. Hat mit dem Pferderennsport zu tun. Offensichtlich war sie die Geliebte unseres Hauptverdächtigen Frank Guiton.«
Irritiert fragte Emily: »Und du bist dir wirklich sicher, dass wir über dieselbe Frau reden? Debbie Farrow aus St. Brelade’s Bay? Sie arbeitet bei einer Bank in St. Helier.«
»Genau die.«
Harold bückte sich, um mit spitzen Fingern ein zerdrücktes Papiertaschentuch aufzuheben, das er am Straßenrand neben einem Felsbrocken entdeckt hatte. Während er eine kleine Spurensicherungstüte aus seiner Jacke zog und das Taschentuch darin verschwinden ließ, hatte Emily genügend Zeit, ihre Überraschung zu verarbeiten. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Debbie in ihrer Trauer und in ihrem psychisch angeschlagenen Zustand der Sinn nach einer Affäre gestanden hatte, aber was wusste sie schon über die Gefühle dieser jungen Frau? Einsamkeit konnte auch blind machen. Immerhin ließ sich nicht leugnen, dass Debbie sehr verändert gewirkt hatte.
Nachdenklich meinte sie: »Ich habe Debbie gestern Morgen zufällig in der Stadt getroffen, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Sie war in einer merkwürdigen Stimmung. Sehr fahrig und unkonzentriert …«
»Na bitte«, sagte Harold, als würde das schon alles erklären. Er konnte nicht widerstehen und fügte mit einem kleinen süffisanten Lächeln hinzu: »Ich nehme an, dein Gedächtnis ist noch immer so gut, dass du dich Wort für Wort an das Gespräch erinnern kannst.«
Es kostete Emily große Überwindung, diese Taktlosigkeit hinzunehmen. Harold wusste ganz genau, wie sehr sie
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