Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
öffnete die letzte Tür.
Sie brauchte einen Augenblick, um sich an das Dämmerlicht im Raum dahinter zu gewöhnen. Die halb zugezogenen blauen Damastvorhänge erzeugten eine geheimnisvolle Atmosphäre. Emily spürte, dass hier irgendetwas anders war als in den Zimmern, die sie bisher gesehen hatte. Entschlossen ging sie zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Von einer Sekunde zur anderen flutete Sonnenlicht durch den Raum, sodass der ausgeblichene, fadenscheinige Wollteppich auf dem Holzfußboden fast schon gelb wirkte.
Der Raum ähnelte einer Mönchszelle. Die sparsame, fast asketische Möblierung bestand aus einer Schlafpritsche, über deren Kopfende ein schlichtes Holzkreuz hing, zwei einfachen Stühlen, einem runden Beistelltisch sowie einem alten Stehpult, auf dem zwei Bibeln lagen, eine in französischer und eine in portugiesischer Sprache. Es herrschte eine merkwürdige, beinahe schon geheimnisvoll klerikal anmutende Atmosphäre.
Wozu wurde dieser Raum genutzt? Zum Meditieren? Oder als Gästezimmer? Emily konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich um das Schlafzimmer des lebensfrohen Vikars handelte.
Plötzlich hörte sie, dass jemand die Treppe herunterkam – allein. Wahrscheinlich war es Harold. Auch er schien nicht fündig geworden zu sein.
»Emily?« Ja, es war Harold.
»Ich komme!«, rief sie nach draußen.
Sie war schon an der Tür, als ihr etwas auffiel. Ein Foto schaute unter der französischen Bibel hervor. Die beiden Gesichter, die sie darauf zu erkennen glaubte, jagten ihr einen Schreck ein. Vielleicht irrte sie sich ja. Schnell zog sie das Foto hervor.
Doch sie irrte nicht.
Es war ein Foto von Debbie Farrow mit ihrem kleinen Sohn David. Beide lachten in die Kamera. Darüber stand, geschrieben mit rotem Lippenstift: Danke! Deine Debbie! Schockiert starrte Emily auf die geradezu intim wirkende Widmung.
Als Harold hereinkam, ließ sie das Foto rasch in ihrer Anoraktasche verschwinden. Es war mehr ein Reflex als die bewusste Entscheidung, dem Chef de Police etwas so Wichtiges vorzuenthalten. Sie war verwirrt. Ungeordnete Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Nur Harolds harte Stimme hinter ihr hielt sie davon ab, schon jetzt in wilde Spekulationen zu verfallen.
»Der Vikar ist tatsächlich verschwunden! Was sagst du dazu?«
Emily drehte sich um und folgte ihm zurück in den Flur. Jetzt erst bemerkte sie, dass auch über der Eingangstür ein großes Holzkreuz hing. Mit seiner Aura religiöser Macht schien das heilige Kreuz daran erinnern zu wollen, dass Godfrey Ballard Geistlicher war und Respekt verdiente.
»Vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung dafür. Er wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben«, meinte sie, auch um sich selbst zu beruhigen. Vieles an diesem merkwürdigen Fall ergab überhaupt keinen Sinn.
Harold winkte ab. »Geh nach oben, dann siehst du, was ich meine«, sagte er zornig. »Er ist regelrecht getürmt. Nur einen halb gepackten Koffer hat er stehen lassen.«
Sie versuchte eine Erklärung. »Vielleicht wollte er …«
Doch in seiner Rage ließ er sie nicht zu Wort kommen. »Verlass dich drauf, ich werde den Burschen finden!«
Noch bevor Emily weitersprechen konnte, hatte Harold schon die Haustür geöffnet und stürmte nach draußen zu seinem Wagen. Wahrscheinlich wollte er die Fahndung nach dem Vikar einleiten.
Emily blieb zurück. Ihre Finger befühlten das Foto in ihrer Tasche. Plötzlich glaubte sie, sie würde Debbies herzliches Lachen hören.
Nie wieder würde irgendjemand es hören können.
In diesem Augenblick beschloss sie, mitzuhelfen, damit der Mord an Debbie so schnell wie möglich aufgeklärt wurde.
Ärgerlicherweise gab es auch am nächsten Morgen immer noch keine Neuigkeiten aus der Gerichtsmedizin.
Obwohl die Ermittlungsgruppe unter Detective Inspector Jane Waterhouse bereits seit sieben Uhr morgens tagte, ließ sich die Pathologie Zeit. Das Einzige, was sie von den Medizinern gehört hatten, war die Bestätigung des Todeszeitpunktes. Man hatte ihn auf etwa dreiundzwanzig Uhr in der Nacht vor dem Leichenfund festgelegt.
Jane Waterhouse empfand es als Zumutung, derart hingehalten zu werden. Schon regelmäßige kurze Zwischenberichte der Gerichtsmedizin wären ihr hilfreich gewesen, denn improvisieren mussten sie schließlich alle. So schwere Verbrechen wie die beiden Morde geschahen nur höchst selten auf Jersey, dementsprechend hoch war der Druck auf die Ermittler. Quasi über Nacht hatte sie ihr
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