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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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machten die Briten einen Vorschlag. Sie litten sehr unter Malaria, und ihr Chinin-Nachschub aus dem Osten war unterbrochen worden. Konnten sie den Arzt gegen etwas vom synthetischen deutschen Atabrine eintauschen?
    Die moralische Frage war, ob sie die Briten weiter schwächen sollten, indem sie ihnen das Atabrine verweigerten, oder ob er seinen Arzt zurückwollte. Wie von Luck sagte: »Ich entscheide mich schnell.« Er tauschte das Atabrine gegen den Arzt ein.
    Einmal entdeckte ein Aufklärer der Royal Air Force auf einer weit hinter die feindlichen Linien reichenden Patrouille von Lucks kleine Kolonne. Es gab kein Versteck auf dieser gnadenlos flachen Ebene. Innerhalb einer Stunde kamen Jagdflugzeuge über den Horizont gedröhnt, Hurricanes und Spitfires. Sie konzentrierten ihre gesamte Feuerkraft auf von Lucks Flugabwehr und eliminierten sie. Eine Stunde später kamen sie wieder und eliminierten seine Artillerie. Jetzt war er ohne jede Verteidigung, verteilte seine Männer in einiger Entfernung von den Panzern und Aufklärungsfahrzeugen und sah hilflos zu, wie die Flugzeuge ein drittes Mal kamen und die Panzer zerstörten.
    »Als einziger ist mein Funker in seinem Wagen geblieben und setzt neue Funksprüche ab. Neben dem Wagen steht mein Nachrichtenoffizier, der dem Funker hereingibt, was ich ihm zurufe.
    Da setzt eine Maschine, ich glaube, das Emblem Kanadas zu erkennen, im Tiefflug auf die gepanzerte Funkstelle zum Angriff an.
    Aus 20  Metern kann ich das Gesicht des Piloten unter seiner Fliegerhaube genau erkennen. Aber anstatt zu schießen, gibt er mit der Hand ein Zeichen an meinen Funkoffizier zu verschwinden und zieht die Maschine in einem großen Bogen hoch. Ich schreie: ›Holen Sie den Funker aus dem Fahrzeug und verschwinden Sie beide in Deckung.‹
    Die Maschine hat gedreht und kommt zum zweiten Mal aus der Sonne auf uns zu. Diesmal schießt er eine seiner Raketen ab und trifft den Funkwagen … Diese Einstellung des Piloten, ob Kanadier oder Engländer, wurde für mich
das
Beispiel von Fairness in diesem gnadenlosen Kampf. Ich werde das Gesicht und die Handbewegung des Piloten nie vergessen.« [83]
    Es gab immer wieder kleine Vorfälle wie diesen. Als das Ende schließlich kam, erhielt von Luck, der dachte, an einem Ort zu sein, wo ihn niemand finden konnte, den folgenden Brief, der ihm von einem Beduinen übergeben wurde.
    »Royal Dragoons
    Der Kommandant
    Lieber Major von Luck,
    wir hatten andere Aufgaben, konnten daher die Verbindung zu Ihnen nicht halten. Der Krieg in Afrika ist entschieden, bedauerlicherweise nicht zu Ihren Gunsten. Ich möchte daher Ihnen und allen Ihren Leuten im Namen meiner Offiziere und Mannschaften für das Fair Play danken, mit dem wir auf beiden Seiten miteinander gekämpft haben.
    Ich und meine Abteilungen wünschen Ihnen allen, dass Sie heil aus dem Krieg zurückkehren und wir einmal die Möglichkeit finden, uns unter besseren Bedingungen wiederzusehen.
    Hochachtungsvoll …« [84]
    Ich will damit nicht sagen, dass sich die Deutschen und Engländer im Zweiten Weltkrieg nicht schreckliche Dinge angetan haben. Das haben sie. Aber es gab auch Begebenheiten, bei denen es anders war. Wie von Luck sagt: »Zwischen uns herrschte eine Atmosphäre des Respekts. Wir ›verstanden‹ einander.« Das Wort »Respekt« ist bemerkenswert. Aus irgendeinem Grund haben sich diese Männer an ihr gemeinsames Menschsein erinnert und die Bestie kontrolliert, die in uns allen wohnt. Sich an unser gemeinsames Menschsein zu erinnern und die Bestie zu kontrollieren, die diese Erinnerung auszulöschen versucht, sollte die Aufgabe aller bewussten Krieger der Zukunft sein.
    Die Grundausbildung ist heute darauf ausgerichtet, unseren Feinden ihre Menschlichkeit abzusprechen, und ich bin mir sehr bewusst, dass uns das mit einer sehr schwierigen Frage konfrontiert. Werden unsere jungen Leute unsere Kriegspolitik umsetzen, wenn sie die Tatsache nicht bewältigen, dass der Feind, den sie töten, ein Mensch wie sie selbst ist? Wird eine erhöhte Bewusstheit ihre Leistungsfähigkeit herabsetzen?
    Ich glaube nicht.
    Wenn ein junger Krieger tötet, ob aus Wut oder in der Vorstellung, dass der Feind kein wirklicher Mensch ist, muss er darauf vorbereitet werden, mit dieser Entgleisung umzugehen. Es ist so, als würde man Krebs frühzeitig entdecken. Die Chancen für eine Heilung sind ungleich größer, wenn man ihm nicht erlaubt, sich unbemerkt auszubreiten. Ich bezweifle nicht, dass Krieger immer wieder aus

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