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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Wut töten werden. Krieger töten zum Zeitpunkt der Tat vielleicht auch immer in der Überzeugung, der Feind sei unmenschlich. Unser Ziel sollte dennoch darin bestehen, unsere Krieger dafür zu trainieren, möglichst schnell wieder in einen bewussten Zustand zurückschalten zu können, wenn die akute Gefahr vorüber ist. Das wird sie nicht unbedingt zu perfekteren Kriegern machen, aber doch voranbringen.
    Brutale Charakterzüge, Kontrolle, Aggression und Mitgefühl
    Ich werde wahrscheinlich nie wieder so erregt sein wie in der Situation, als ich meine sichere Position verließ, um zu meinem alten Zug zu stoßen, und am Ende Utter aus dem feindlichen Maschinengewehrfeuer zog. Ich rannte mit der gleichen begeisterten Erregung zu den Kämpfenden, wie ein Verliebter in der spirituellen Liebeslyrik der Mystiker zu seiner Geliebten eilt. Vielleicht handelt es sich ja um ähnliche transzendente psychologische Verfasstheiten. Aber ich will das nie wieder erleben. Es ist ein gefährlich überhöhter Daseinszustand.
    Diese transzendent überhöhte Verfasstheit ist einer der Hauptgründe dafür, warum der Krieg ein so hartnäckiges menschliches Problem und so schwer zu stoppen ist. Die mit ihm verbundene Überhöhung bietet uns ein elementares Erleben, ist voller Dynamik, furchterregend und ungezügelt. Wir werden Teil von etwas, das größer ist als wir selbst. Wenn im Krieg alles einfach nur schlimm wäre, würde es ihn viel seltener geben, aber so ist es nicht. Warum spielen Kinder Krieg? Warum werden Erwachsene Krankenwagenfahrer, Feuerwehrmänner und arbeiten in Rettungsdiensten? Weil sie durch diese Berufe aus ihrer normalen, beschränkten Welt herausgehoben werden.
    Um unsere Kinder, die Krieger der Zukunft, zu lehren, um welche Kräfte es da geht und welche Gefahren sie bergen, sollte sie jeder von uns kennen und in der Lage sein, Energie aus ihnen zu ziehen, wenn es angebracht ist.
    Ich will von meinem Besuch bei deutschen Freunden, Albert und Hilde, und ihren vier Kindern erzählen. Hilde stammt aus der preußischen Aristokratie, und wir besichtigten eine Burg mit Festungsanlagen, die seit etlichen Generationen im Besitz ihrer Familie ist. Als ich die Gänge der Burg entlangging, fiel mir auf, wie viele der alten Krieger, die da Seite an Seite porträtiert an den Wänden hingen, Hilde bemerkenswert ähnlich sahen.
    Hilde verschwand mit den drei Mädchen, und Albert und ich gingen mit ihrem Sohn Wilhelm, kurz »Wim«, hinauf auf die breiten, dem Wind ausgesetzten Burgmauern. Die Festung liegt auf einem Berg mitten in einer kleinen Stadt. Eine romantische Hügellandschaft breitete sich unter uns aus, bis zum Horizont sah man darin eingebettet Bauernhöfe und kleine Dörfer.
    Wim war mit seinen vier Jahren viel zu jung, um etwas über die Geschichte der Burg und die Porträts an den Wänden zu wissen. Er lief ein Stück voraus und trat an den Rand der Befestigungsmauer. Es gab keine Brüstung, kein Sicherheitsgeländer oder sonst etwas zwischen ihm, der Landschaft vor ihm und dem Tod unter ihm. Albert und ich verstummten und waren wie erstarrt.
    Wim stellte sich breitbeinig hin, nur Zentimeter trennten ihn vom Abgrund. Er stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften, drückte die Brust raus, reckte das Kinn und rief in einer seltsam kraftvollen Stimme: »Ich bin Deutscher.« Albert, ein sanftmütiger Mann, der seinen Vater im Zweiten Weltkrieg verloren hatte und Die Grünen unterstützte, war völlig überrascht. Etwas hatte von Wim Besitz ergriffen und ließ mich erzittern. Die Geister der Vorfahren waren um uns. Der grimmige nordische Gott Wotan, der Führer der Wilden Jagd, war gekommen.
    Albert ging langsam hinüber zu Wim, kniete sich neben ihn, legte die Arme um ihn und sah einen Moment lang mit ihm aufs Tal hinaus. Ich kann es nicht wörtlich übersetzen, aber seine Worte und sein Ton besagten so etwas wie: »Ja, du bist ein Deutscher. Ist das nicht schön?« Dann holte er Wim vom Abgrund weg und sagte lächelnd auf Englisch zu mir: Vermutlich war es doch ganz richtig, dass Deutschland nach dem Krieg geteilt wurde.
    Wotan existiert, und ich denke, in manchen Kulturen befindet er sich näher unter der Oberfläche als in anderen, er ist Jungen näher als Mädchen. Ich weiß, dass es in mir und überall um mich herum sehr grimmige, wilde Kräfte gibt, und diese Kräfte gilt es zu kanalisieren und zu führen. Sie sind zu stark, um einfach nur blockiert oder verdammt zu werden, und sie können in uns allen wirksam

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