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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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sie müssten früh schon lernen, dass sie sich ihm stellen können. Alle Veteranen haben Angst davor, missverstanden zu werden. Wenn die Entgiftung aber verpflichtend ist, während die Leute noch in Uniform sind, lernen sie frühzeitig, Scham und Angst ins Gesicht zu sehen, und beides bricht sich nicht erst nach zwanzig Jahren offen Bahn, nach schmerzvollen Scheidungen, verlorenen Jobs und einer Entfremdung von der Gesellschaft im Allgemeinen und den eigenen Kindern im Besonderen. Das ist längst noch keine perfekte Lösung, aber besser als das Schweigen.
    Metaphorisch gesprochen, sollten Veteranen ermutigt werden zu singen. Joseph Henderson zeigte mir einmal bei sich zu Hause eine Bildersammlung, Kopien von Zeichnungen eines Navajo-Schamanen. Sie erzählten die Geschichte zweier Brüder, die sich auf eine Reise begaben, um ihren Vater, die Sonne, zu finden. Ihr Vater bewaffnete sie, und sie wurden Krieger und kämpften gegen die wilden Ungeheuer, die ihren Stamm bedrohten. Auf den Bildern waren Blitze und Energiestrahlen zu erkennen, die von den Brüdern ausgingen, als sie in ihr Dorf zurückkamen. Die Dorfbewohner hatten Angst vor ihnen und sagten, sie sollten wieder gehen. Die Himmelsfrau nahm sie bei sich auf und brachte ihnen bei, von ihren Abenteuern zu singen. Als sie ihre Lieder fertiggestellt hatten und sie den Leuten vorsangen, verloren die ihre Angst.
    Dieses Buch ist mein Lied. Jeder von uns Veteranen muss ein Lied über unseren Krieg haben, das er singt, durch das er zurück in die Gemeinschaft finden kann, ohne dass alle, einschließlich des Königs, hinter den Mauern vor ihm zittern. Vielleicht können wir auch Bilder über den Krieg malen oder Gedichte über ihn rezitieren. Vielleicht sollten wir in kleinen Gruppen zusammenkommen und von unseren Erlebnissen erzählen. Vielleicht sollten wir unsere Träume aufschreiben und sie den Menschen erzählen. Das Wichtigste dabei ist: Die Kunst darf nicht in Einsamkeit ausgeübt werden, wir dürfen das Lied nicht allein für uns singen. Wir müssen für die anderen singen. Sie müssen die Kunst sehen und erkennen. Sie müssen ihre Angst verlieren.
    Wenn ein Kind fragt: »Wie ist es im Krieg?«, müssen wir ihm antworten. Wer schweigt, findet nicht nach Hause.

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    10 Der Club
    Wenn ein Krieger aus seiner ersten Schlacht zurückkehrt, wird er Mitglied des »Clubs« der Frontveteranen. Das war immer schon ein Club mit seinen eigenen Geheimnissen und seinen eigenen und ihm von der Gesellschaft auferlegten Verschwiegenheitsregeln. Traditionell ist es ein Club, der mit dem Mysterium der Geschlechter verbunden ist, denn das Kriegersein gilt als männlich. In Kombination mit der Verschwiegenheit ist dieses alte Mysterium ein machtvoller Anziehungspunkt für zukünftige Mitglieder, vor allem für junge Männer. Man kann diesem Club nicht beitreten, man wird in ihn hineininitiiert.
    Auch die Krieger der Zukunft werden Mitglieder dieses Clubs, genau wie die der Vergangenheit es waren, nur werden die Krieger der Zukunft begreifen müssen, dass der wahre Zweck dieses Clubs in der modernen Gesellschaft darin bestehen sollte, eine ehrenhafte Gilde zu werden. Wie die Mitgliedschaft in allen ehrenhaften Organisationen des Handwerks oder Handels könnte die volle Mitgliedschaft in der Gilde der Krieger ein wichtiger Teil des Weges zum Erwachsenwerden sein, allerdings dürfte die Mitgliedschaft dafür nicht länger als der einzige wahre Weg zur Männlichkeit gesehen werden, und gleichzeitig müsste die Schweigeverpflichtung fallen.
    Ich war dreizehn, und wir Älteren in unserer Pfadfindergruppe hatten Überlebenstechniken gelernt. Jetzt sollten wir geprüft werden. Wir saßen in einen alten, schäbigen Lieferwagen gepfercht, mit dem sonst Holzfäller noch vor Sonnenaufgang in den Wald gebracht wurden. Die kalten, metallenen Wände waren nass vom kondensierten Atem der Jungen. Joe, einer unserer erwachsenen Betreuer, war Waldgutachter bei einer großen Holzgesellschaft, von der er sich den Wagen geliehen hatte. Wir wurden jeweils zu zweit entlang eines langen, vermatschten Holzabfuhrwegs abgesetzt, ohne Proviant oder irgendwelche Ausrüstung, jeweils rund einen Kilometer voneinander entfernt. Vor uns lag eine Reihe dunkler, mit Tannen bedeckter Höhenrücken, in die regengefüllte Bäche tiefe, steile Schluchten gegraben hatten. Je weiter die Erhöhungen entfernt lagen, umso weniger klar waren sie zu erkennen. Der sanft fallende Regen senkte einen Schleier über die Welt,

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