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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Club zu brauchen, ob es sich nun um eine Studentenverbindung in Yale handelt oder einen Bowlingclub, der sich einmal in der Woche trifft. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und es scheint angemessen, dass wir uns als Erwachsene über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe definieren. Ich wurde nach und nach von jenen Pfadfinderführern ins Erwachsenendasein geleitet, verwechselte aber gleichzeitig den Club der Männer mit jenem anderen Club, der Gilde der Krieger. Was sie auch selbst sicher getan haben, genau wie heute viele junge Männer den Club der Männer mit einer Straßenbande verwechseln, die sie, mit schrecklichen Folgen, als Ersatz für eine ehrenhaftere Kriegergilde nutzen. All das ist vor allem das Ergebnis der Verschwiegenheit, die den Clubmitgliedern auferlegt wird. Über das, worüber man nicht reden darf oder will, erhält man keine Klarheit. Die größte Ironie im Zusammenhang mit dem Eintreten in den Club der Krieger bestand für mich darin, herauszufinden, dass das Schweigen ebenso sehr gesellschaftlich gefordert wie persönlich auferlegt war. Wenn du über das redest, worauf du stolz bist, gibst du an. Wenn du über das redest, was schmerzvoll und traurig ist, jammerst du. Redest du über die Brutalität, bist du brutal. Die Gesellschaft will einfach, dass wir den Mund über all das halten.
    Mein Onkel, der in Italien am Bein verwundet wurde, sprach nie darüber. Mein Vater fing erst in seinen Siebzigern an zu erzählen, was er in Frankreich und Deutschland erlebt hatte, und ich musste ihn immer wieder neu dazu auffordern. Clubmitglieder sprechen nicht einmal ihren Söhnen gegenüber vom Club. Auch mich hatte es immer verlegen gemacht – warum, kann ich nicht wirklich sagen –, meinen Kindern vom Krieg zu erzählen, aber es geht langsam besser.
    Der Druck zu schweigen wirkt auch auf der familiären Ebene, genau wie beim Thema Alkoholismus oder einem anderen Bereich, der gesellschaftlich mit Scham belegt ist. Als ich an diesem Buch zu arbeiten begann, wollte meine erste Frau niemandem erzählen, dass es vom Krieg und vom Töten handeln würde. [80] Eines Tages, wir waren gerade mit dem Auto unterwegs, brach es voller Wut aus ihr heraus, ich solle wenigstens ein Pseudonym verwenden, damit die Kinder nicht Gefahr liefen, in der Schule wegen der einen oder anderen nicht so schönen Preisgabe verhöhnt und beschämt zu werden. (Bilder von Szenen in der Schulcafeteria flammten auf: »Meine Mom sagt, euer Dad bringt Leute um, obwohl sie sich ergeben wollen, und er treibt es mit Prostituierten.«) Meine erste Frau litt offensichtlich unter der gleichen Rede-nicht-von-diesen-Dingen-Empfindung wie ich. Ich mag es immer noch nicht, von Leuten gefragt zu werden, woran ich gerade schreibe, weil es viel zu viel Erklärung verlangt, damit die Fragenden nicht denken, ich bin so eine Art Kriegsfreak, der am Wochenende im Tarnanzug herumläuft. An militärischen Dingen interessiert zu sein, wird von einem großen Teil der Gesellschaft immer noch politisch für nicht korrekt gehalten, und so bleibt das Thema für die meisten Leute praktisch ein Mysterium.
    Es gibt verschiedene Aspekte dieses Verschwiegenheitskodexes. Es geht zum einen darum, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Die Engländer, die den Ausdruck des
stiff-upper-lip-
Bewahrens erfunden haben, also nicht mit der Oberlippe – oder anders: der Wimper – zu zucken, sind besonders gut darin. Man gibt einfach nicht an, und man beklagt sich nicht. Fünfundneunzig Prozent der Dinge, die ich erlebt habe, böten Anlass zur Klage, wegen vier Prozent schäme ich mich, und mit einem Prozent könnte ich angeben. Wenn der Kodex also lautet, sich nicht zu beklagen, bleibt herzlich wenig, worüber ich reden könnte.
    Das erinnert mich an einen von mir sehr bewunderten älteren Mann, einen Dozenten in Oxford, von dem ich wusste, dass er im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Ich fragte ihn mehrfach danach und bekam immer nur Antworten wie: »Oh, ich bin ein bisschen im Dschungel herumgelaufen. Es war nicht weiter aufregend.«
    Wir tun uns das an, denke ich, weil wir wieder in die Gesellschaft passen wollen. Nicht über unsere Erfahrungen zu reden, erlaubt uns das mit dem kleinstmöglichen Maß an unerwünschten Störungen. Der Club ist die Schutzvereinigung der Veteranen, die uns vor unserer großen Angst bewahrt, missverstanden zu werden. Missverstanden zu werden heißt, für bestimmte Gefühle bei Erfahrungen verurteilt zu werden, die außerhalb unserer

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