Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
eine verdammt lange Nacht ein. Ich konnte das. Und ich würde es durchstehen. Claire hatte sich auf Rachels Geburtstagsfeier zum letzten Mal über meine Ängstlichkeit lustig gemacht. Ich war das Gerede über den Ouijabrett-Vorfall leid. Nach der heutigen Nacht würde ich mir das nie wieder anhören müssen.
Beim Anblick des Gebäudes beschlich mich die Angst. Rachel zog ihre Kamera aus der Tasche und öffnete den Verschluss. Dann nahm sie wieder meine rechte Hand, während Jude meine linke ergriff. Doch ihre Gegenwart und die Berührungen machten das, was wir vorhatten, nicht weniger bedrohlich. Aber der Teufel sollte mich holen, ehe ich mir vor Claire noch einmal die Blöße gab.
Claire holte ihre Videokamera aus dem Rucksack und hängte sie sich über die Schulter. Dann marschierte sie auf das Gebäude zu. Rachel folgte ihr und zog mich mit sich. Wir kamen zu einem verfallenen Zaun, an dessen verwitterten Holzlatten überall ZUTRITT VERBOTEN-Schilder angebracht waren. Ich hob instinktiv den Kopf und schaute auf das unheilvolle Heim, das über mir aufragte wie etwas aus einem Gedicht von Edgar Allan Poe. Die Staatliche Irrenanstalt Tamerlane war ein furchterregendes Bauwerk, das durch den Efeu, der die Eingangstreppe überzog und über die großen Ziegelsteinmauern kroch, nur noch düsterer wirkte. Die steinernen Fenstereinfassungen verfielen und bröckelten.
Wir hatten geplant, die Nacht in dem verlassenen Gebäude zu verbringen und bei Tageseinbruch den Heimweg anzutreten. Rachel und Claire wollten sich gründlich umsehen und versuchen, den Kindertrakt ausfindig zu machen und die Räume, in denen man Elektroschocks verabreicht hatte. Rachels anerkannter Horrorliteratur zufolge waren diese Räume am ehesten prädestiniert für paranormale Aktivitäten. Außerdem hatten sie und Claire vor, unser Abenteuer für die Nachwelt festzuhalten. Hurra.
Jude schob sich dichter an mich heran und ich war dankbar für seine Gegenwart, während Rachel und Claire den verrottenden Holzzaun überwanden. Dann war ich an der Reihe. Jude hob mich an, doch ich zögerte, als ich das morsche Holz ergriff. Nach ein paar aufmunternden Worten hievte ich mich schließlich mit seiner Hilfe hinüber. Ich landete hart in einem raschelnden Haufen vermodernder Blätter.
Am leichtesten gelangte man durch den Keller in das Gebäude.
17
I chwusste, dass Rachel die Anstalt hatte erkunden wollen, doch bis zu jenem Traum in der Nacht, nachdem dieser Mistkerl von einem Hundebesitzer gestorben war, fehlte mir die Erinnerung daran, warum ich mich einverstanden erklärt hatte, mitzumachen.
Am Samstag machte ich mich auf weitere Träume und Erinnerungen gefasst – und darauf, Rachel sterben zu sehen. Zitternd kroch ich unter die Decke. Ich wollte sie wiedersehen, andererseits auch nicht. Doch ich träumte noch einmal den gleichen Traum. Und auch Sonntagnacht ereignete sich nichts Neues.
Dass ich mich erinnerte, war ein gutes Zeichen, auch wenn es langsam vonstattenging. Dafür aber ohne Psychologen oder bewusstseinsverändernde Chemikalien. Offensichtlich war mein Bewusstsein bereits genug verändert.
Ich war fast froh darüber, mir das ganze Wochenende den Kopf über Mabel zerbrechen zu können, auch wenn ich mich nicht überwinden konnte, Noahs Telefonnummer herauszusuchen. Ich nahm mir vor, mich am Montag im Englischunterricht bei ihm nach ihrem Befinden zu erkundigen, doch als ich am Morgen zum Unterricht kam, war er nicht da.
Statt zuzuhören, schweiften meine Gedanken ab und mein Bleistift wanderte zerstreut über eine Seite in meinem Skizzenbuch, während Ms Leib unsere Aufsätze einsammelte und den Unterschied zwischen tragischen Helden und Antihelden erörterte. Jedes Mal, wenn ein Schüler den Raum verließ oder betrat, schaute ich zur Tür und erwartete, Noah zu sehen. Doch er kam nicht.
Als die Stunde zu Ende war und ich mein Skizzenbuch zuklappen und in die Tasche stopfen wollte, warf ich einen Blick auf die Zeichnung.
Noahs Kohleaugen blinzelten mir vom Blatt entgegen, den Blick nach unten gerichtet, die umliegende Haut voller Lachfältchen. Er fuhr sich mit dem Daumen über den lächelnden Mund, während die restliche Hand eine Faust bildete. Dabei hatte er fast etwas Schüchternes an sich. Seine blasse Stirn war glatt und entspannt.
Mein Magen zog sich zusammen. Ich blätterte zur vorhergehenden Seite und stellte entsetzt fest, dass ich darauf Noahs elegantes Profil perfekt eingefangen hatte, von den hohen Wangenknochen bis
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