Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
außerdem habe ich wahrscheinlich das Arbeitspensum für meine Leistungskurse unterschätzt und ich bin mir nicht sicher, wie es im Examen laufen wird. Vielleicht schaffe ich es doch nicht auf ein Elitecollege.«
»Also, wenn das stimmt, kann ich gleich einpacken«, sagte ich.
»Vielleicht solltest du dich darum kümmern, bevor es zu spät ist«, sagte Daniel, ohne mich anzusehen.
»Das wäre wahrscheinlich leichter, wenn ich auch so ein Genie wäre wie mein großer Bruder.«
»Dubist genauso clever wie ich. Du arbeitest nur nicht so hart.«
Ich machte den Mund auf, um zu widersprechen, aber mein Bruder schnitt mir das Wort ab.
»Es geht nicht nur um die Noten. Was willst du sonst noch in deine Collegebewerbung schreiben? Du spielst weder Theater noch ein Musikinstrument. Du arbeitest nicht bei der Zeitung mit und treibst keinen Sport. Und –«
»Ich zeichne.«
»Dann mach etwas daraus. Nimm an Wettbewerben teil. Gewinne ein paar Preise. Zieh dir andere Sachen an Land. Sie müssen sehen, dass du –«
»Himmel, Daniel, das weiß ich, okay? Ich weiß es.«
Den Rest der Heimfahrt verbrachten wir schweigend, allerdings hatte ich ein schlechtes Gewissen und brach die Stille, als wir in unsere Einfahrt bogen. »Was macht Sophie dieses Wochenende?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Daniel und knallte die Fahrertür hiner sich zu. Wunderbar. Jetzt hatte er auch noch miese Laune.
Ich ging ins Haus, um mir in der Küche etwas zu essen zu suchen, während Daniel in seinem Zimmer verschwand. Zweifellos, um die Grundzüge eines herausragenden Entwurfs von philosophischem Schwachsinn für seine Praktikumsbewerbungen zu Papier zu bringen und die Schmerzen seiner Leistungsneurose zu veratmen, während ich meine trostlose Zukunft als Straßenmalerin in New York vor mir sah, die sich von Instantsuppen ernährte und in einem heruntergekommenen Teil des East Village hauste, weil ich keine ehrenamtlichen Tätigkeiten aufzuweisen hatte. Dann klingelte das Telefon und unterbrach meine Gedankengänge. Ich nahm den Hörer ab.
»Hallo?«
»Sagen Sie Ihrem Mann, dass er den Fall abgeben soll«, flüsterte jemand am anderen Ende der Leitung. So leise, dass ich mir nicht sicher war, richtig verstanden zu haben.
Trotzdem hämmerte mir das Herz in der Brust. »Wer ist da?«
»Das werden Sie bereuen.« Auf der anderen Seite wurde aufgelegt.
Mir brach der kalte Schweiß aus. Als Daniel in die Küche kam, hielt ich immer noch den Hörer in der Hand, obwohl das Tonsignal schon lange verstummt war.
»Was machst du da?«, fragte er, als er auf dem Weg zum Kühlschrank an mir vorbeiging.
Ich antwortete nicht. Stattdessen ging ich die Anrufliste durch und überprüfte den letzten eingegangenen Anruf. Das Büro meiner Mutter, vor zwei Stunden. Sonst nichts. Wie spät war es jetzt? Ich sah auf die Anzeige der Mikrowelle – zwanzig Minuten waren vergangen. Ich hatte zwanzig Minuten lang dagestanden und den Telefonhörer in der Hand gehalten. Hatte ich den Anruf gelöscht? Hatte es ihn überhaupt gegeben?
»Mara?«
Ich drehte mich zu Daniel um.
»Himmel«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.«
Oder als hätte ich einen gehört.
Ich ignorierte ihn und zog auf dem Weg zu meinem Zimmer mein Handy aus der Tasche. Ich hatte heute Morgen meine Tablette genommen, genau wie an jedem anderen Tag seit der Kunstausstellung. Aber wenn der Anruf real war, warum tauchte er dann nicht in der Anrufliste auf?
Völlig aus dem Häuschen wählte ich die Nummer meines Vaters. Er nahm beim zweiten Klingeln ab.
»Ich habe eine Frage«, platzte ich heraus, bevor ich auch nur Hallo gesagt hatte.
»Was ist los, Kind?«
»Wenn du den Fall jetzt abgeben wolltest, könntest du das tun?«
Mein Vater schwieg am anderen Ende der Leitung. »Ist alles in Ordnung mit dir, Mara?«
»Ja, ja, es ist bloß eine theoretische Frage«, sagte ich. Und das war es ja auch. Im Moment.
»Na schön. Also, es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Richterin an diesem Punkt einen Wechsel der Verteidigung gestatten würde. Um ehrlich zu sein, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie es nicht zulassen würde.«
Mir rutschte das Herz in die Hose. »Wie ist denn der andere Anwalt aus dem Fall rausgekommen?«
»Der Klient war damit einverstanden, dass ich den Fall übernehme, sonst hätte Nathan Pech gehabt.«
»Und dein Klient würde dich jetzt nicht gehen lassen?«
»Das bezweifle ich. Es würde ihm die Sache
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