Was habe ich getan?
wollenen Uniformjacke zu bürsten.
Sie beobachtete, wie er mit der Handfläche über seine Bauchmuskeln strich und eindeutig genoss, wie diese sich unter dem frischen weißen Hemd anfühlten.
»Ja.«
»Bist du dir sicher, dass das mit einem Fremden nicht leichter wäre?«
Sie bemerkte das hoffnungsvolle Flackern in seinen weit aufgerissenen Augen.
»Ich bin mir absolut sicher, Roland. Danke, dass du mich fragst, aber es gibt niemanden, mit dem ich lieber sprechen würde. Ich weiß es zu schätzen, dass du eigens aufgestanden und hierhergekommen bist, ehrlich.«
Es war, als begreife sie nicht, was gerade vor sich ging. Sie verhielt sich, als habe sie ihn auf einen kurzen Besuch eingeladen, und nicht, als sei sie sich im Klaren darüber, dass er in aller Frühe aus seinem Bett gerissen worden war – wegen des ersten mutmaßlichen Mordfalls in seinem Revier seit achtzehn Jahren. Da war kein Zittern in ihrer Stimme, kein Zögern oder erkennbare Nervosität. Ihre Hände lagen ordentlich gefaltet in ihrem Schoß. Sie sah so gelassen aus wie jemand, der auf seinen Termin beim Arzt wartet.
Roland war seit zwanzig Jahren bei der Polizei. Er hatte viel gesehen – grausige, ungerechte und amüsante Dinge. Aber so etwas? Ihr Verhalten ergab keinen Sinn und schockierte ihn. Er war bestürzt, ja erschüttert.
»Du machst angesichts deiner aktuellen Situation einen sehr ruhigen Eindruck.«
Er fragte sich, ob sie womöglich unter Schock stand.
»Weißt du, es ist lustig, dass du das sagst, weil ich wirklich ruhig bin. Sehr ruhig.«
»Das beunruhigt mich ja so.«
»Ach, Roland, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, überhaupt keinen. Für mich ist dieses Gefühl der Gelassenheit eine erfreuliche Abwechslung. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt! Genau genommen glaube ich nicht, dass ich mich so gefühlt habe, seit ich ein Kind war. Das war eine schöne Zeit in meinem Leben. Ich brauchte mir um absolut nichts Sorgen zu machen und wurde sehr geliebt. Das war eine wunderbare Kindheit, ein wunderbares Leben. Ich bin nicht immer so gewesen, weißt du.«
»Wie?«
»Ach, du weißt schon – verängstigt, gereizt, verschlossen. Ich war sehr zielstrebig. Nie feurig oder wild, aber ich habe fest daran geglaubt, dass ich die Welt zum Leuchten bringen, neue Wege einschlagen kann. Ich dachte, ich würde viel erreichen. Meine Eltern sagten mir immer, die einzige Begrenzung meiner Leistungsfähigkeit bestehe in meiner Fantasie, und ich glaubte ihnen. Sie sind inzwischen beide gestorben. Ich denke nicht mehr häufig an sie.«
»Warum nicht?«
Sie atmete langsam aus.
»Um die Wahrheit zu sagen, Roland, ich habe immer gedacht, die Toten könnten irgendwie über uns wachen, ja sogar in der Lage sein, uns zu beschützen. Falls meine Eltern mich die ganze Zeit beobachtet haben, dann schäme ich mich für alles, was sie haben mit ansehen müssen. Ich schäme mich dafür, was aus mir geworden ist. Andererseits, falls sie in der Lage waren, mich von ihrer Beobachtungsgalerie da oben aus zu beschützen, warum haben sie es dann nicht getan? Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich um Hilfe gefleht, um Hilfe gebetet habe. Vergebens. Deshalb mache ich mir lieber keine Gedanken darum. Es ist viel zu verwirrend, und noch mehr Verwirrung war genau das, was ich nicht gebrauchen konnte.«
»Wenn du es getan hast, Kathryn, dann stellt sich die Frage, warum? Warum hast du das gemacht?«
Mit dem schwachen Lächeln einer Frau, die unsicher ist, wo sie anfangen soll, aber trotzdem weiß, dass sie anfangen muss, formulierte Kathryn ihre Antwort mit Bedacht.
»Das ist im Grunde ganz einfach. Ich habe es getan, damit ich meine Geschichte erzählen kann, ohne Angst zu haben.«
»Deine Geschichte?« Roland war verdutzt.
»Ja, Roland. Ich muss meinen Kindern, der Familie, unseren Freunden, der gesamten Öffentlichkeit meine Geschichte erzählen können, ohne Angst zu haben.«
»Angst wovor?«
Er hatte ihr eine Weile zugehört, trotzdem verstand er noch immer nicht.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Zugleich rollte ihr eine ungebetene Träne über die Wange.
»Ach, Roland, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Angst vor Schmerzen, Todesangst, aber vor allem die Angst, dass ich mich in mich zurückziehen und nie wieder auftauchen würde. Ich weiß nicht, wo mein Ich geblieben ist, verstehst du? Ich weiß nicht, wo die Person geblieben ist, die ich einmal war. Es ist, als wäre aus mir ein Nichts geworden, als würde ich
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