Was habe ich getan?
Versuchung darauf hinzuweisen, dass sie das ebenfalls könnte, wenn sie den gleichen Chirurgen konsultieren würde und in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren auf Kohlenhydrate verzichtet hätte.
»Außerdem, Mum, denke ich, dass ich kein ganz so geregeltes Leben führen will, wie du, weißt du, kein ganz so vorhersehbares. Ich glaube, ich hätte gern ein bisschen Abwechslung. Ich weiß, dass ich immer malen werde, aber abgesehen davon werde ich wahrscheinlich ab und zu umziehen, neue Leute kennenlernen, andere Länder bereisen, neue Erfahrungen machen und mich immer wieder neu verlieben. Ich denke, dass man sich für das Falsche entscheiden könnte, wenn man nicht alles ausprobiert, und dann könnte man in der Klemme sitzen. Mum, ich will nicht in der Klemme sitzen. Mir gefällt der Gedanke, nicht wirklich zu wissen, was ich im nächsten Jahr vielleicht mache. Das vermittelt mir den Eindruck, dass mein Leben ein Abenteuer ist und sich nicht einfach nur um mich herum abspielt, falls das einen Sinn ergibt. Ich glaube nicht, dass ich verheiratet sein will und mich dann so um Leute kümmern möchte, wie du dich um uns und Dad kümmerst. Das ist nicht böse gemeint oder so, ich meine, du machst das wirklich gut.«
Kathryn konnte nur nicken und die aufsteigenden Tränen hinunterschlucken, die ihr von der Nase hinten im Hals hinab rannen und ihr das Sprechen unmöglich machten.
Ist schon gut, mein Schatz, du kluges Mädchen. Du hast recht, probiere alles aus! Geh überall hin, gib dich mit nichts zufrieden, was nicht das Bestmögliche für dich ist. Und triff gute Entscheidungen. Triff die richtigen Entscheidungen. Erlebe Abenteuer! Manövriere dich nicht in eine Klemme …
Es war eine große Erleichterung, ihre Tochter das sagen zu hören. Kathryn wusste, dass es ihrem kleinen Mädchen gut gehen würde, egal was passierte.
Es war beinahe Zeit, ins Bett zu gehen, eine Uhrzeit, die immer viel zu schnell näher zu rücken schien. In früheren Jahren hatte sie versucht, das Zubettgehen hinauszuzögern, aber das schob das Unvermeidliche nur hinaus und verärgerte ihren Mann zusätzlich.
Kathryn stieg die Treppe hinauf, zog ihr vertrautes weißes Baumwollnachthemd an und wartete.
Mark beugte sich herab, als er um das Bettende herumging, und atmete ihren Duft ein.
»Deine Haare riechen nach Fisch.«
Sie zuckte zusammen, als ihr einfiel, dass sie sich mit den Fingern durch die Haare gefahren war, nachdem sie den Lachs angefasst hatte, und wusste, was das bedeuten konnte. Sie war verlegen.
Egal, wie oft es vorkam, es war trotzdem erniedrigend, sich negative und gemeine Bemerkungen anhören zu müssen.
»Das war vorhin eine interessante Erkenntnis über Miss Mortensen. Ich bin nicht nur überrascht, dass du es für angebracht gehalten hast, es beim Abendessen zur Sprache zu bringen, sondern ausgerechnet vor den Kindern.«
Kathryn wusste, dass es besser war, nichts zu sagen. Obwohl die Versuchung groß war, darauf hinzuweisen, dass er häufig viel unpassendere Themen am Esstisch und vor den Kindern aufs Tapet brachte, von denen eines, wie sie definitiv wusste, sexuell aktiv war und wie ein Schlot rauchte.
»Heute Abend wirst du mir vorlesen. Ich weiß doch, wie gern du liest.«
Er lächelte seine Frau kurz an, die in ihrer gewohnten Haltung auf dem Boden kniete und wartete.
Während Mark duschte, wurde ihr das Herz bei der Aussicht zu lesen – wenngleich laut – etwas leichter. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Falls sie Freude an der Aufgabe zeigte, würde er sich gewiss ärgern, doch Gleichgültigkeit würde die gleiche Reaktion hervorrufen. Sie hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen.
Die Aufgabe sollte nichts Freudiges haben, überhaupt nichts.
Als Mark ihr das Buch reichte, erhob sie sich wackelig von ihren Knien. Er öffnete seinen Bademantel und deutete auf den Stuhl mit der geraden, leiterähnlichen Holzlehne, den er neben das Bett geschoben hatte. Kathryn drehte den schweren Wälzer um und las den Titel: Ilias. Ihre Müdigkeit und Verzweiflung war auf einmal überwältigend. Sie war müde, und der Gedanke, sich um diese Uhrzeit durch diesen speziellen Text zu kämpfen, fühlte sich an, als müsste sie einen Berg erklimmen.
Mark legte sich bäuchlings mitten auf das Bett, den Kopf auf den angewinkelten Unterarm gestützt, das Gesicht abgewandt.
Sie schlug die erste Seite auf und versuchte, nicht auf das dicke Kissen neben dem Kopf ihres Mannes zu schauen, das ihren Blick mit aller Macht
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