Was im Dunkeln liegt
in Kriegszeiten, als Straßenschilder entfernt wurden, um die erwartete Invasion zu vereiteln, die Kinder dazu angehalten hatte, auf Fragen von Fremden, die sich nach dem Weg erkundigten, mit der geschmeidigen Mittelklasseformulierung »Das kann ich nicht sagen« zu antworten – und somit die Worte »das weiß ich nicht« zu vermeiden, die eine Lüge gewesen wären. Auf diese Weise konnte der Feind überlistet werden, ohne dass jemand gegen das achte Gebot verstieß.
Mrs Ivanisovic wird sich allerdings nicht so einfach abspeisen lassen. Sie ist keine als Nonne verkleidete deutsche Fallschirmspringerin. Mrs. Ivanisovic ist eine bemerkenswerte alte Dame – waren das nicht die Worte der Steinsplitterfrau? Sie ist entschlossen, sich nicht eher vom Leben zu verabschieden, bis sie die Wahrheit herausgefunden hat. Jetzt hat sie ihren nächsten mühsamen Versuch vollendet und hält den Block hoch. Die Buchstaben schlängeln sich quer über die Seite; manche sehen aus, als
versuchten sie wie in einem Wettrennen über die anderen drüberzuklettern, um schneller am Rand des Blattes anzukommen. Gab es Streit.
»Natürlich haben wir uns manchmal gezankt.«
Sie sticht mit dem Kugelschreiber in die Seite, hält ihre Frustration nicht mehr zurück.
»Bitte, Mrs Ivanisovic. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sagen kann. Wenn Sie wissen wollen, ob Danny sich umgebracht hat, weil wir Streit hatten, so kann ich Sie diesbezüglich beruhigen. Meinen Sie nicht, ich hätte das bei der gerichtlichen Untersuchung angegeben, wenn so etwas vorgefallen wäre?«
Sie lehnt sich gegen die Kissen zurück. Das Wispern ihres Atems pulsiert sanft durch das Zimmer, mischt sich mit dem weichen, langsamen Ticken des Weckers auf ihrem Nachttisch. Ein neuer Regenguss prasselt gegen die Fensterscheiben. All die Jahre hat sie über diese Frage nachgesonnen, hat sich gefragt, wie es dazu gekommen sein konnte, dass ihr kluger, witziger, talentierter Sohn – ein attraktiver junger Mann mit blendenden Zukunftsaussichten, den sie zuletzt in ausgelassener Stimmung erlebt hatte, glücklich und verliebt – Selbstmord begangen hatte. Ohne ein Wort der Erklärung, ohne einen Abschiedsbrief. Es beruhigt mich, dass sie offenbar keine Antworten hat. Ihre Theorien beruhen lediglich auf wilden Vermutungen: Sie stellt sich vor, wir hätten uns gestritten und daraufhin hätte Danny sich umgebracht – aus einer gekränkten Laune heraus nach einem Zank zwischen Liebenden. Oder hat sie noch bessere Theorien im Kopf?
Ich bemerke, dass meine Finger schmerzen. Ohne es zu merken, hatte ich meine Hände im Schoß zu Fäusten geballt
und die Nägel dabei in die Handflächen gebohrt. Ich stelle mir ihre Stimme vor, wie sie ihm Frage um Frage stellt. »Hatte es etwas mit Katy zu tun? Hatte es etwas mit Trudie zu tun?« Aufgrund einer Eigenart in der Broadoaks-Klimaanlage bläst mir ein eisiger Luftzug über den Nacken.
Sie beugt sich nach vorn und müht sich erneut mit dem Kugelschreiber ab. Er droht ihren Fingern zu entgleiten, wackelt und schleppt sich über das Blatt, als sei er versucht, eigene Gedanken auszudrücken. Ich beobachte, wie sie Buchstaben bildet, dem Kugelschreiber ein S abringt, dann ein I. Das M ist geradezu kläglich.
»Simon?«, frage ich.
Sie nickt. Ich schweige, versuche mich ihrer Worte während meines letzten Besuchs zu entsinnen. Wie ein Studienkollege von Danny sie besucht hatte, aber der Tür verwiesen wurde. Die Schwester hat mir Josser bereits ungebeten ins Gedächtnis gerufen. War er es, der unangemeldet bei den Ivanisovics aufgetaucht ist? Es würde Josser ähnlich sehen, einfach auszuprobieren, ob sich aus seiner angeblichen Freundschaft mit Danny und Simon Kapital schlagen ließe. Als das missglückte, hat er womöglich auf irgendwelche Andeutungen zurückgegriffen. Vor der gerichtlichen Untersuchung war mir nicht klar gewesen, dass Simons Homosexualität für einige seiner Kommilitonen kein Geheimnis war. Vermutlich war ich davon ausgegangen, dass alle anderen Leute eine ebenso lange Leitung wie ich selbst hatten.
»Es stimmt, was man über Simon gesagt hat«, taste ich mich vorsichtig weiter. Ich will sie nicht quälen. »Und auch – und auch, dass er Danny liebte. Aber er liebte ihn als Freund – nicht auf sexuelle Weise.«
Ich versuche, ihren Ausdruck aus dem wenigen, was ich von ihrem Gesicht sehen kann, zu entschlüsseln. Sie hilft mir mit einer Bewegung, die ich als Nicken interpretiere. Sie
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