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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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umriss der amerikanische Außenminister George Marshall die Grundzüge eines wirtschaftlichen Unterstützungsplans mit der Absicht, europäische Länder im Wiederaufbau an die USA statt an die UdSSR zu binden. Insoweit lag die Initiative tatsächlich bei den Amerikanern, die jedoch ihrerseits auf die zunehmend manipulative und gewaltsame Etablierung kommunistischer Diktaturen reagierten und 1949 zusätzlich durch den Sieg der Kommunisten Maos im chinesischen Bürgerkrieg und die Ausrufung der Volksrepublik verunsichert waren. Schon im Jahr darauf verlagerte sich der äußere Schwerpunkt des Konflikts nach Ostasien – der Koreakrieg (1950–53) war der erste der «Stellvertreterkriege», während Europa trotz militärischer Hochrüstung und politischer Hochspannung ein neuer Krieg erspart blieb.
    Im Schmelztiegel des frühen Kalten Krieges bildete sich um 1950 ein neues Konzept des demokratischen und freiheitlichen Westens heraus, der als eine militärisch-politische ebenso wie geistig-kulturelle Einheit der Bedrohung des kommunistischen Ostens gegenüberstand. Geographische Begriffe erhielten einen veränderten Klang – so auch der «Nordatlantik», der mit der Gründung der NATO im April 1949 als Interessen- und Gesinnungsraum der freiheitlichen Demokratie seinen einflussreichen institutionellen Rahmen erhielt. Viele Wurzeln dieser Umbildung von Identitäten reichten in das frühe 20. Jahrhundert zurück, zumal in das Epochenjahr 1917: Die USA mischten sich mit dem Kriegseintritt in die europäischen Verhältnisse ein, die russische Oktoberrevolution brachte die Alternative zur liberalen Demokratie hervor, die sich auch 1945 noch als höchst lebensfähig erwies. Die «Atlantikcharta» Roosevelts und Churchills hatte im August 1941 dem späteren Gedanken der NATO vorgearbeitet. In der Präambel des Gründungsvertragesvom 4. April 1949 erklärten sich deren Mitglieder entschlossen, «Freiheit, gemeinsame Herkunft und Kultur ihrer Völker zu schützen, gestützt auf die Prinzipien der Demokratie, der individuellen Freiheit und des Rechtsstaates». Dieser Satz enthielt bereits das Ensemble von Konzepten, auf das sich der Westen im Kalten Krieg gut vier Jahrzehnte lang berief, einschließlich der Berufung auf eine in der Geschichte begründete gemeinsame Werteordnung. Darin steckte, angesichts von Feindschaften und Kriegen innerhalb Europas ebenso wie amerikanisch-europäischer Klüfte, ein gutes Stück «Erfindung von Tradition» (Eric Hobsbawm), die sich aber als ungemein wirkungsvoll erwies. Die NATO war im Kern eine Militärallianz; Demokratie und freiheitliche Lebensordnung wurden unter den Schutz einer gemeinsamen bewaffneten Verteidigung gestellt. Die Demokratie bekam Zähne – darin lag freilich auch eine durchaus neuartige Militarisierung der Demokratie, die in Kultur und Alltag der westlichen Länder bis zum Ende der 1980er Jahre weit ausstrahlte.
    So etablierte sich bald ein charakteristisches Wortfeld für diese Demokratie in Bedrohung und kämpferischer Selbstbehauptung; die wichtigsten Vokabeln in dieser neuen Leitsemantik waren der «Westen» und die «Freiheit». An eine Gemeinsamkeit des Westens mussten sich beide Seiten erst einmal heranarbeiten. In amerikanischer Sicht stand der Begriff, jenseits der eigenen kontinentalen Ausdehnung bis zum Pazifik, spätestens seit der Monroe-Doktrin von 1823 für die «westliche Hemisphäre» als Doppelkontinent Nord- und Südamerika, in der die Europäer nichts verloren hatten. Diese Bedeutung ist im US-amerikanischen Sprachgebrauch auch während des Kalten Krieges, der den Westen um das «freie», nicht kommunistische Europa erweiterte, nie ganz verloren gegangen. Umgekehrt mussten auch die Europäer lernen, mit den USA und Kanada Teil eines «Westens» zu sein, nicht zuletzt die Deutschen in der Bundesrepublik. Denn in der politischen Geographie hatte Deutschland zuvor nie zu «Westeuropa» gezählt. In dieser Situation des Umdenkens erwies sich die Berufung auf das «Abendland» als eine hilfreiche Brücke. In den 50er Jahren sprachen zumal konservative Intellektuelle, in der Reflexion auf eine Zukunft nach dem Nationalsozialismus, gerne vom Abendland und seinen gemeinsamen Werten. Denn unbefangen vom «Westen» zu reden fiel in dieser Tradition nicht leicht – hatte man doch

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