Was ist Demokratie
Demokratie, wie es Wolfgang Merkel und Hans-Jürgen Puhle entwickelt haben, geht über die enge, «realistische» Definition eines kompetitiven Wahlregimes bei Joseph Schumpeter bewusst hinaus und spiegelt insofern die Erweiterung des Demokratieverständnisses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Stück weit bleibt es aber auch Schumpeter treu, weil es die institutionellen Komponenten und die politische Demokratie im Zentrum belässt. Dahinter steckt unausgesprochen die These: Nur aus zivilgesellschaftlicher Aktivität kann Demokratie nicht bestehen; und an ihren materiellen Leistungen, an ihrem «Output» in Form von Wohlstand oder innerer Sicherheit kann ihr Erfolg nicht in erster Linie gemessen werden.
So haben sich viele Transformationsländer seit etwa 1990 wirtschaftlich äuÃerst dynamisch entwickelt und gleichzeitig politische Instabilität überwunden, ohne dass sie damit in der Demokratie angekommen wären. Das gerade aus europäischer Sicht wichtigste Beispiel dafür ist Russland nach dem Fall des Kommunismus und der Auflösung der Sowjetunion. Noch in der Krise von 1989/91 wurde deutlich â etwa im Augustputsch 1991 gegen Gorbatschow â, dass Russland weit entfernt war, den Weg Polens oder Ungarns zu gehen. Unter Boris Jelzin, von 1991 bis 1999 erster demokratisch gewählter Präsident des Landes, schien wenigstens die Richtung von innerer Liberalisierung, Festigung demokratischer Institutionen und kultureller Ãffnung gegenüber dem Westen unbestreitbar. Sein Nachfolger Wladimir Putin führte Russland als Präsident (2000â2008) und danach als Ministerpräsident zwar in formaldemokratische Stabilität, doch in Wirklichkeit unverkennbar auf einen autoritären Kurs zurück, der sich auch ausdrücklich vom westlichen Verständnis von Demokratie abgrenzte. Wissenschaftler haben sein System als eine «gelenkte Demokratie» beschrieben. Die Effektivität der demokratischen Institutionen ist durch die Führungsstellung von Putin selber ebenso begrenzt wie durch mächtige «Oligarchen» und mafiöse Strukturen; Bürgerrechte stehen immer wieder zur Disposition; Kritiker wie die Journalistin Anna Politkowskaja bezahlen mit ihrem Leben. Zwar hebt sich Putins Russland immer noch vorteilhaft von dem Regime Alexander Lukaschenkos in WeiÃrussland ab, das als letzte Diktatur Europas gelten kann. Aber ein «Transformationsland» im eigentlichen Sinne war Russland bis 2011 nicht mehr.
In der vergleichenden Forschung jedoch hat sich der Begriff durchgesetzt und leistet für einen Ãberblick über die globale Situation der Demokratieauch nützliche Dienste. Für den «Bertelsmann Transformation Index» etwa klassifiziert eine Forschergruppe seit 2003 alle zwei bis drei Jahre über hundert Länder der Erde im Blick auf ihren demokratischen Fortschritt, aber auch ihre staatliche Konsolidierung und ihre ökonomischen, besonders marktwirtschaftlichen Erfolge. Die etablierten Demokratien des Westens, von Nordamerika über Westeuropa bis nach Japan und Australien, bleiben dabei auÃen vor; die postkommunistischen Demokratien Mitteleuropas dagegen sind einbezogen. Im Jahre 2010 waren demnach unter 128 untersuchten Staaten 23 Demokratien ohne wesentliche Defizite und 53 defekte Demokratien, davon galten 16 als «stark defekt», auch Russland. Weitere 52 Länder waren Autokratien, unter ihnen auch die «failing states», in denen Staatlichkeit überhaupt gescheitert war oder auf schwachen Beinen stand. Dazu zählten 2010 Afghanistan und afrikanische Staaten wie die Demokratische Republik Kongo (früher Zaire).
Ein eindeutiger Trend lieà sich in diesem Jahr nicht beschreiben; das Verhältnis von Demokratien zu Autokratien war stabil geblieben. Positiv fielen die Fortschritte der Demokratisierung in groÃen und bevölkerungsreichen Ländern wie Brasilien und Indonesien auf; vielleicht wird sich beim nächsten Mal auch die «Arabellion» von 2011 niederschlagen. Aus demokratietheoretischer Sicht ist es jedoch heikel, dass der Bertelsmann-Index die Leistungsfähigkeit von Staaten sehr hoch bewertet. So profitiert die Volksrepublik China von ihrer boomenden Wirtschaft und von ihren gefestigten staatlichen Strukturen, die schlechte Demokratiewerte ein Stück weit kompensieren. Auch scheint eine Skala problematisch, in der längst konsolidierte Demokratien wie
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