Was ist Demokratie
manchen erschien der fundamentalistische politische Islam geradezu als eine dritte Variante des Totalitarismus, gegen den sich die liberale Demokratie so behaupten müsse wie zuvor gegen das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion.
Blickt man auf das Maà an Gewalt, auf die Vehemenz der politischen Auseinandersetzung und nicht zuletzt auf die tiefe kulturelle Verunsicherung des Westens, hatte sich Huntingtons Prognose im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, das auch als Jahrzehnt Osama bin Ladens bezeichnet worden ist, durchaus erfüllt. Aber lässt sich daraus ein prinzipieller Gegensatz zwischen der westlichen Kultur einerseits, der islamischen andererseits ableiten? Führen Religion und Kultur des Islam unvermeidlich in klerikale Theokratien wie im Iran, oder in andere Formen autoritärer Herrschaft, während sie mit demokratischen Regierungsformen unvereinbar sind? Seit dem Frühjahr 2011 erhoben sich Millionen Menschen, die meisten von ihnen Muslime, in zahlreichen arabischen Staaten gegen Diktatoren, Könige und autoritäre Potentaten, von denen nicht wenige â wie der ägyptische Präsident Husni Mubarak â lange Zeit das Vertrauen des Westens genossen hatten. In Libyen unterstützte die NATO den Volksaufstand gegen Muammar al-Gaddafi auch mit militärischen Mitteln. Ob und in welchen Ländern der «arabische Frühling» in eine dauerhafte Demokratisierung münden wird, und wie solche Demokratie in Verfassung und konkreterPraxis aussehen wird, ist noch unklar. Zu den wichtigsten oppositionellen Kräften gehören auch solche des politischen Islam wie die ägyptische Muslimbruderschaft. Jedenfalls aus der Sicht des Westens zeigt das ein Dilemma der Demokratisierung im Mittleren Osten an.
Dass die arabische Region tatsächlich ein demokratisches Defizit aufweist, kann nicht bestritten werden. Und weil in anderen Teilen der Welt, von Ostmitteleuropa bis Lateinamerika und teils auch in Südostasien, seit 1989 autoritäre Regime gestürzt sind, ist der Abstand seitdem sogar eher gröÃer geworden, jedenfalls vor der «Arabellion» von 2011. Die Ursachen für diesen Rückstand der arabisch-islamischen Welt sind allerdings vielfältig und liegen nur zum Teil im Islam. Von der Vielfalt der ethnischen, religiösen und politisch-historischen Prägungen einmal abgesehen, reichen die Wurzeln der autoritären Verfassung in vielen arabischen Staaten weit vor den Aufstieg des politischen Islam und vor die Radikalisierung fundamentalistischer Strömungen gegen den Westen zurück. Der antiwestliche Affekt führt in die Zeit der europäischen Kolonialherrschaft, mit ihrem Höhepunkt vom klassischen Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit der 1950er Jahre, zurück. Zumal in der Zeit des Kalten Krieges verknüpften sich antikolonialer Nationalismus, teils auch in einer panarabischen Variante, und Sozialismus als antiwestliche Emanzipationsideologie wie im Ãgypten Nassers, aber auch in Gaddafis Libyen und in Saddams Irak. Der Nahostkonflikt um Israel und Palästina, in dem der Westen (trotz aller Vermittlungsdiplomatie und Hilfsleistungen für die Palästinenser) eindeutig auf der Seite der jüdischen Staatsgründung und der israelischen Demokratie stand, hat die arabischen Staaten immer wieder dem Westen entfremdet.
Herrschaftsstrukturen und traditionelle soziale Strukturen blieben oft ähnlich eng verwoben wie in Europa vor dem 19. Jahrhundert, obwohl es einen regelrechten Feudalismus im arabischen Raum nicht gab. Aber eine Gesellschaft, in der Patriarchalismus und Familienclans eine zentrale Stellung einnehmen, ist einem rationalen Staatsaufbau und einer liberalen Individualisierung nach westlichem Muster nicht unmittelbar zugänglich â auch hier ist der Islam nur ein Faktor unter vielen. Die mit dem Erdöl verbundene wirtschaftliche Prosperität hat die politische Entwicklung eher gehemmt als gefördert. Ãl und autoritäre Herrschaft sind eine Symbiose eingegangen, am deutlichsten auf der arabischen Halbinsel, in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein wichtiger Grund dafür ist die staatliche bzw. familiendynastischeKontrolle über diese Ressource und Quelle des Reichtums für relativ Wenige. In seiner Abhängigkeit vom Ãl hat der Westen zudem über Jahrzehnte traditionalistische und autoritäre
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