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Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)

Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)

Titel: Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Flasch
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Koyré gezeigt. Sie haben dadurch die Aufmerksamkeit auf den Spruch II gelenkt, mit sachlichem Recht, gewiss, aber doch mit einem Nachteil als Folge: Der Text als ganzer und seine philosophische Bedeutung trat in der Aufmerksamkeit zurück. Daher habe ich alle vierundzwanzig Sprüche erklärt und habe hervorgehoben: die metaphysischen Aussagen (besonders VI, X, XI), besonders zur Natur der unendlichen Einheit (besonders III, VII, IX, XI, XIII, XV) und ihrer creatio (besonders XIV), die folgenreichen trinitätsphilosophischen Sätze (besonders I, IV, XII) und die Reflexionen zu Sprache und Erkenntnis (besonders XVI, XVII, XXIII).
    Ich wollte das Buch insgesamt mit seiner einheitlichen Konzeption vor Augen stellen und Einseitigkeiten sowohl der Rezeption wie der Forschungsgeschichte sanft korrigieren.
    Der unvollendete Spinozismus von Satz VI, das Sein der göttlichen Einheit über Sein und Nichtsein (besonders Sätze X und XI), das durchgängige Motiv der Lebendigkeit sowie die sprach- und erkenntnisphilosophische Vorbereitung der docta ignorantia (XVI, XVII und XXIII) – dies alles verdient Interesse und wurde doch bisher über der wissenschaftsgeschichtlichen Fruchtbarkeit von Definition II vernachlässigt. Weil sie so folgenreich war für die Kosmologie, wurden ihre fundamentalphilosophischen oder metaphysischen Aussagen und ihre denkgeschichtliche Gesamtbedeutung weniger erforscht. Ich kehre aber zu dem mächtigen Bild der Kugel ohne Peripherie, also zur zweiten Definition zurück und nehme dazu den Anfang noch einmal bei Meister Eckhart.
    Der vermutlich älteste Text Eckharts, der uns überliefert ist, ist seine Pariser Osterpredigt, die sich ausnahmsweise genau datieren lässt, nämlich auf das Jahr 1294. Eckhart präsentierte sich damit in der akademischen Öffentlichkeit. Und er tat es auf charakteristische Weise: Gleich am Anfang, im ersten Textabschnitt, beginnt er mit zwei Zitaten, eines aus Cicero und dann mit unserem Spruch II. Soviel Antike war für eine Predigt ein eigentümlicher Anfang, der nicht dadurch weniger befremden mochte, dass Eckhart hinzufügte, Cicero sei unter allen Lehrern der Rhetorik derjenige, den Augustinus am meisten empfohlen habe.[ 90 ] Cicero weise darauf hin, dass Unerwartetes, Unglaubliches und Ungewohntes die Hörer am meisten fasziniere, und dies enthalte die österliche Aufforderung, ein Freudenmahl zu halten. Denn hier werde uns Gott, die unbegreifliche ‹intelligible Kugel›, sphaera intelligibilis et incomprehensibilis , deren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends ist, in der Form des Brotes als Speise angeboten.
    Das war ein origineller Neuanfang: Eckhart stellt Messe und das Abendmahl dar als die ideale Erfüllung der rhetorischen Regeln Ciceros wegen der staunenerregenden unbegreiflichen Präsenz der unendlichen Einheit in einem Stück Brot. Der Spruch II der vierundzwanzig Philosophen setzt sprachliche Kombinationsmöglichkeiten und rhetorische Finessen frei, die Eckhart hervorhebt, ohne sich daran zu stören, dass aus dem von ihm zitierten Satz folgt, dass Gott unteilbar, also ganz, an jedem anderen Punkt des Weltalls ebenso präsent ist wie in dem Stück Brot auf dem Altar. Macht die zweite Definition nicht Sakramente und die gesamte kirchliche Heilsvermittlung überflüssig? Der Sache nach zweifellos, aber Eckhart zieht daraus eine aus Cicero gewonnene Regel der Beredsamkeit auf der Kanzel. Mehr interessiert ihn hier nicht. Was in der Geschichte des Denkens als unvereinbar, weil widersprüchlich gilt, wird in der realen Geschichte des Denkens nicht nach rein logischen Gesetzen bestimmt. Auch Widersprüchlichkeit ist ein historisches Phänomen. Es muss ein Interesse an der Aufdeckung von Widersprüchen bestehen; es müssen Denkregeln vernachlässigt oder Ausnahmebedingungen ersonnen werden, um Unvereinbares akzeptabel zu machen. Der junge Eckhart machte daraus in Paris, gestützt auf Cicero, geradezu ein rhetorisches Spektakel. Mit Hilfe von Satz II hob er die göttliche Unendlichkeit in unbegreifliche Höhe; von Kosmoskugel oder Sternensphären war keine Rede; die Unvereinbarkeit der dinghaften Präsenz des unendlichen Gottes deklarierte er als rhetorischen Effekt. Für Eckhart blieb es nicht dabei, aber so fing er an: Der Blitz, der eine Glaubenswelt hätte zerstören können, bekam zunächst einen Blitzableiter aus der Rhetorik. Thomas Bradwardine bewies mit Hilfe des Liber die gesamte christliche Glaubenslehre axiomatisch und ordnete sie neu; dazu zog

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