Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
er die Regel V heraus, die ebenfalls nichts mit Kosmologie zu tun hat, die aber das dynamische Prinzip enthielt, bei jedem präsentierten Inhalt die Frage zu stellen, ob nichts Besseres gedacht werden könne. Während Eckhart dem Spruch II den Stachel zog, indem er ihn zunächst rhetorisierte und später als Anregung nahm, Koinzidenzerfahrungen festzuhalten, also das Größte im Kleinsten zu finden, entsorgte Bradwardine ihn auf dem Spezialgebiet der Kosmologie mit seiner Lehre vom unendlichen, leeren göttlichen Raum, der den faktisch gegebenen Weltraum unendlich überragt: Gott in situ imaginario infinito enthielt in sich die aristotelisch-ptolemäischen Weltschalen, überstieg sie aber so sehr, dass in einem jahrhundertelangen Prozess denkbar wurde, man brauche sie gar nicht. Die unendliche Gottkugel bedrohte nicht nur das kirchliche Selbstverständnis der Gottespräsenz in Sakramenten, sondern auch die traditionelle Kosmologie der Erdkugel und der runden Sternensphären. Aber es gab immer auch intellektuelle Techniken, den zerstörerischen Effekt der These II zu eliminieren. Mit Hilfe subtiler Distinktionen ließ sich die Unendlichkeit Gottes als die des Weltverursachers deuten, dem gegenüber oder außerhalb dessen eine endliche Welt Bestand habe. Diese kausale Interpretation beließ irdischen Substanzen die Selbständigkeit, die Satz VI ihnen abgestritten hatte.
Thomas Bradwardine ist zwanzig Jahre nach Eckhart gestorben. Beider Werk lebt vom Buch der vierundzwanzig Philosophen. Beide haben dessen philosophischen Ductus fortgeführt, um eine Form des christlichen Denkens zu entwickeln, die kohärenter sein sollte als das gewöhnliche scholastische Denken. Er scheute nicht davor zurück, Petrus Lombardus anzugreifen und die Vielen, die diesem folgten. Beide kritisieren die Normalscholastik; dabei zeigt Bradwardine ein weitaus größeres Interesse an formaler Beweistechnik als Eckhart. Bradwardine hat das «immens-große Buch» tatsächlich geschrieben, das Eckhart nur angekündigt, aber nie realisiert hat. Bradwardine zitiert Duns Scotus, Eckhart noch nicht. Dadurch war die Lage für Bradwardine komplizierter; er musste sich auf Subtilitäten einlassen, die Eckhart ignorierte. Er legte eine ausgearbeitete neue Gesamtkonzeption von Philosophie, Theologie und Naturwissen vor, eine logisch und quasi-mathematisch durchkonstruierte Summa für das neue Jahrhundert. Eckhart ging auswählend vor; er ließ vielen Schulstoff auf sich beruhen, den Bradwardine im einzelnen nach der fünften Regel der Vierundzwanzig minutiös korrigierte. Beide erneuerten den Gesamtbestand des christlichen Selbstverständnisses. Beide verabscheuten Kompromisse; beide hätten ihr Reformchristentum nicht artikulieren können ohne Das Buch der 24 Philosophen . Beide machten von ihm einen originellen freien Gebrauch.
VI. ‹Gott im Mittelalter› – Eine kulturhistorische Betrachtung
Das Buch der vierundzwanzig Philosophen gibt noch manche Rätsel auf, was Zeit und Ort seiner Entstehung angeht. Aber dass es zwischen 1200 und 1800 abgeschrieben, gelesen, umgedeutet und weitergedacht worden ist, das ist unbestreitbar. Es förderte die kosmologische Spekulation, aber es war nicht für sie konzipiert. Sein Thema war: Was ist Gott? Nicht: Was ist der Weltraum? Welche Rolle konnte es überhaupt im Ganzen mittelalterlicher Konzeptionen von Gott und in deren alltagspraktischen Formen und institutionellen Verfestigungen spielen?
Einige seiner möglichen Wirkungen haben sich im Lauf der Textanalysen gezeigt: Es bewies den Wert der Weisheit der Heiden. Es belegte die Tauglichkeit der philosophischen Vernunft zu theologischen Ansprüchen. Es schuf Distanz zu positiven Behauptungen über Gott und zur religiösen Alltagspraxis dieser Jahrhunderte. Es rückte Bibel, Bibeltheologie und Kirchendienst in die Ferne zugunsten unmittelbarer Gottesnähe. Es erwies Vermittlungsinstanzen als überflüssig: Gott war überall ganz. Es löste Hierarchien auf. Nicht alle, denn die kosmischen Stufen der arabischen Philosophen, besonders Avicennas, kommen im Kommentar zur zwanzigsten Definition noch vor: ‹Erste› ‹Beweger› – ‹Intelligenzen› – ‹Himmelsseelen› – ‹Himmelskörper› – ‹irdische Dinge›. Aber diese und jede andere Hierarchie waren nun umfangen von der unendlichen Gottsphäre, in der Gott an jedem Punkt unteilbar anwesend war.
Das Buch der 24 Philosophen störte den Aufbau der Pariser Schultheologie aus zwei verschiedenen
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