Was macht der Fisch in meinem Ohr
dunklere Töne, für Marineblau oder Ultramarin. Beide lassen sich aber ins Englische übersetzen, sofern man Wörter hinzufügt, die verdeutlichen, welches Blau gemeint ist. Englisches »Blau« hingegen lässt sich nicht ohne Weiteres ins Russische übersetzen, weil man – welches der beiden Wörter man auch wählt – unweigerlich mehr sagt, als das Englische sagte. Nach allgemeiner Übereinkunft von Verlegern und Leserschaft dürfen Übersetzer aber nichts hinzufügen, was der Originaltext nicht enthält. Akzeptiert man diese Geschäftsbedingungen, gelangt man mit unfehlbarer Logik alsbald zu dem Schluss, dass Übersetzen vollkommen unmöglich ist.
Beobachtungen dieser Art haben schon viele angesehene Wissenschaftler dazu veranlasst, das Übersetzen außerhalb des Bereichs ernsthafter Wissenschaft anzusiedeln. So wies etwa Roman Jakobson, eine Eminenz in der Geschichte der Linguistik, darauf hin, dass сыр , das russische Wort für »Käse«, nicht verwendet werden dürfe, wenn Hüttenkäse gemeint ist, der auf Russisch anders heißt, творога nämlich. Laut Jakobson »kann das englische Wort ›cheese‹ nicht vollständig mit seinem russischen Heteronym gleichgesetzt werden«. 1 Folglich gibt es keine ganz adäquate russische Übersetzung für etwas scheinbar so Simples wie das Wort »cheese«.
Es ist eine unstrittige Tatsache, dass die Wortbestände der Sprachen die Merkmale der Welt auf mehr oder weniger unterschiedliche Weise, manchmal aber auch radikal anders einteilen. Farbbezeichnungen sind nie völlig deckungsgleich: Franzosen zum Beispiel wissen nie genau, was ein Engländer mit »braunen Schuhen« meint, weil die fragliche Fußbekleidung maron (kastanienbraun), bordeaux (bordeauxrot), ja sogar rouge foncé (dunkelrot) sein kann. Die Namen von Fischen und Vögeln kommen häufig in Ordnungen von labyrinthischer Komplexität daher, zwischen denen es keine Entsprechung gibt; ebenso variieren die Grußformeln am Ende von Briefen in Graden der Höflichkeit und Demutsbezeugung, die sich nicht eins zu eins auf eine andere Kultur übertragen lassen.
Diese sattsam bekannten Beispiele für »unvollständige Entsprechungen« oder den Anisomorphismus der Sprachen taugen aber nicht, um die These zu stützen, dass Übersetzen unmöglich ist. Wenn der Übersetzer den Himmel sieht, der blau genannt wird – in der Realität oder wie auf einem Gemälde zum Beispiel –, ist völlig klar, welches russische Farbwort das richtige ist; wenn es sich bei dem in einem Laden gekauften Käse nicht um Hüttenkäse handelt, ist die Wahl des russischen Begriffs keine Hürde. Wenn ein Satz aus einem Roman zu übersetzen ist, spielt es wiederum keine Rolle, welches russische Blau zur Beschreibung eines Kleids verwendet wird, das nur in der bildlichen Vorstellung existiert, die der Leser davon hat. Sollte der spezielle Blauton in einem Kapitel oder auf einer Ebene des Romans später noch wichtig werden, kann der Übersetzer ja zurückgehen und das von ihm zunächst gewählte Wort ändern und der späteren Entwicklung anpassen. Das Fehlen genauer Entsprechungen ist für die Übersetzung also kein so großes Problem, wie viele meinen.
Taschenbuchausgaben von Wörterbüchern enthalten häufig verwendete Alltagswörter und ihre größeren Brüder sind gestopft voll von weniger häufig verwendeten Wörtern. In der Mehrzahl handelt es sich bei diesen zusätzlichen Wörtern um Substantive mit relativ präziser und gelegentlich abstruser Bedeutung wie »Polyester«, »Rezitativ« oder »Kurbelsatz«. Es ist nicht schwer, Wörter dieser Art in die Sprache jeder beliebigen Gemeinschaft zu übersetzen, die Veranlassung hat, sich mit synthetischen Fasern, italienischer Oper oder der Wartung von Fahrrädern zu befassen. Die maßgeblichen Großwörterbücher erzeugen so die merkwürdige Illusion, die meisten Wörter einer Sprache ließen sich automatisch dadurch übersetzen, dass man den entsprechenden Begriff aus dem Wörterbuch einfügt. Aber zwischen den meisten Stichwörtern, die im Wörterbuch stehen, und den Wörtern, die am häufigsten im praktischen Sprachgebrauch vorkommen, liegen Welten. Im Grunde decken bereits zwei- oder dreitausend Einträge die überwiegende Mehrzahl der in allen Äußerungen in allen Sprachen vorkommenden Wörter ab – und das sind mitnichten Wörter wie »Kurbelsatz«, »Rezitativ« oder »Polyester«. 2
Ginge es beim Übersetzen nur darum, die entsprechenden Wörter an der jeweiligen Stelle
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