Was macht der Fisch in meinem Ohr
möchten. Stattdessen verdeutlicht Rogets Thesaurus , und das in aller Schärfe und Klarheit, die schiere Redundanz des gesammelten Wortschatzes, der uns zur Verfügung steht, mit Dutzenden von Ausdrücken, die in feinsten Bedeutungsnuancen fast genau dasselbe bezeichnen (Entrüstung, Zorn, Wut …) . Im Roget zeigt sich die Sprache als reiches, unlogisches und kompliziertes Werkzeug, das es uns erlaubt, feinste und häufig willkürliche Abgrenzungen vorzunehmen, Unterscheidungen zu treffen und Besonderheiten hervorzuheben, kurzum – dasselbe auf unterschiedliche Weise zu sagen.
Obwohl ursprünglich nicht als Hilfsmittel für Übersetzer gedacht, dient ein Thesaurus dem Übersetzen in zweifacher und gleich wichtiger Weise. Die erste ist ausgesprochen praktischer Natur. Beim Blättern in Rogets Verzeichnis von Quasi-Synonymen und sinnverwandten Wörtern findet ein Schriftsteller – der in dem Moment auch Übersetzer sein kann – vielleicht den einen Begriff, der die Bedeutungsnuance noch präziser ausdrückt als das Wort, das ihm zuerst in den Sinn kam. Zweitens aber sagt ein Thesaurus auf jeder Seite dies: Eine Sprache kennen heißt wissen, wie man dasselbe mit anderen Worten sagen kann . Und genau das wollen Übersetzer ja. Rogets wunderbarer Thesaurus ruft ihnen in Erinnerung, dass alle Wörter Übersetzungen anderer Wörter sind, ob in einer Sprache oder zwischen zweien.
10. DER MYTHOS WÖRTLICHE ÜBERSETZUNG
Mit zweisprachigen Wörterbüchern in der Phase des Einfindens in die Arbeit und mit Rogets Thesaurus in der Schlussphase, wenn sie ihr den letzten Schliff geben, sollte es Übersetzern nicht allzu schwerfallen, uns zu sagen, was die Wörter auf dem Papier nun wirklich bedeuten. Faktisch sind es jedoch die Wörter auf dem Papier, die wie ein dunkler Schleier über der Bedeutung liegen, die ein schriftlicher Text hat. Wörter, einzeln und für sich genommen, verdecken Sinn und Gehalt eines Texts, weshalb bei einer Wort-für-Wort-Übersetzung fast nie etwas Gescheites herauskommt. Die Erkenntnis ist nicht neu: Die Einwände gegen das wörtliche Übersetzen sind fast so alt wie die ersten schriftlichen Übersetzungen selbst. 1
Nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit der Geschichte des Übersetzens gelangte George Steiner zu der Ansicht, dass sie zum größten Teil aus dem immergleichen Austausch von immergleichen Fürs und Widers über diesen Punkt bestand: »Seit mehr als zweitausend Jahren treten Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Wesens der Übersetzung auf der Stelle«, schrieb er mit unverhohlener Enttäuschung. 2
Als Don Quijotes liebste Bettlektüre, Amadis von Gallien , auf Französisch erschien, nannte der Übersetzer seinem Gönner zwei Gründe, weswegen er sich nicht an die wörtliche Bedeutung der spanischen Ausdrücke gehalten hatte:
Bitte glauben Sie mir, dass ich nur deshalb so verfuhr, weil ich mit Rücksicht auf Sitten und Bräuche unserer Zeit manches als unschicklich für Menschen in höfischen Kreisen erachtete und weil ich den Rat von Freunden befolgte, die es für passend hielten, dass ich hier auf die peinliche Genauigkeit verzichtete, die sonst bei Übersetzern üblich ist, eben weil der Stoff, den dieses Buch behandelt, solche Pedanterie nicht erfordert. 3
Das »freie« Übersetzen mit diesen beiden Argumenten – eine wörtliche Übersetzung schickt sich für das Zielpublikum nicht und wird auch dem Original nicht gerecht – war schon im 16. Jahrhundert nicht neu, sondern seit vielen Jahrhunderten Usus. Eigentlich haben sich nur wenige Übersetzungskritiker jemals für eine Wort-für-Wort-Übertragung ausgesprochen. Wörtlich vorzugehen, genau das tun Übersetzer in der breiten westlichen Tradition nicht. Wenn das wörtliche Übersetzen als Praxis gar nicht verbreitet ist, warum fühlen sich dann so viele Übersetzer bemüßigt, es abzuschmettern – oft mit stärksten Geschützen? Octavio Paz, der mexikanische Dichter und Gelehrte, hieb erst kürzlich wieder in die bekannte Kerbe: No digo que la traducción literal sea imposible, sino que no es una traducción: »Ich behaupte nicht, dass wörtliches Übersetzen unmöglich ist – es ist nur kein Übersetzen.« 4
Wie weit geht das zurück? Hinweise auf das Thema finden sich zwar schon in den Schriften von Cicero (106–43 v. u. Z.) und von Horaz (65–8 v. u. Z.), doch erst in einem langen Satz aus der Feder des heiligen Hieronymus, der die Bibel ins Lateinische übertrug und später der
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