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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Schutzheilige der Übersetzer wurde, ist der schiefe Gegensatz von »wörtlich« und »frei« vollständig ausformuliert. Im Jahr 346 u. Z., Hieronymus hatte sein Werk fast beendet, verfasste er einen Brief an seinen Freund Pammachius und widersprach der Kritik an seinen bisher vorgelegten Übersetzungen. Wie er seine Aufgabe angepackt hatte, beschrieb Hieronymus so:
    Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis ubi et verborum ordo mysterium est non verbum e verbo sed sensum exprimere de sensu.
    Eine vorläufige Übersetzung erbringt sinngemäß dies: »So bekenne ich nicht nur, sondern erkläre frei heraus, dass ich, ausgenommen beim Übersetzen heiliger Schriften aus dem Griechischen, wo sogar die Wortfolge ein Mysterium ist, nicht das Wort für das Wort wiedergebe, sondern den Sinn für den Sinn.«
    Wir dürfen wohl annehmen, dass Hieronymus’ Ausdruck verbum e verbo , »das Wort … vom Wort«, dasselbe bedeutet wie »wörtliche Übersetzung« und dass sein sensum exprimere de sensu den Gedanken von der »freien« Übersetzung ausdrückt. Er gehe nicht »wörtlich« vor, erklärt Hieronymus, ausgenommen dann, wenn er »heilige Schriften aus dem Griechischen« übersetzt. Das leuchtet ein, bis einem dämmert, dass seine Einschränkung die zentrale Aussage des Satzes über den Haufen wirft, hat Hieronymus doch sein ganzes Leben lang heilige Schriften übersetzt, über die Hälfte davon aus dem Griechischen.
    Hieronymus sagt außerdem, dass er auf eine Sinn-für-Sinn-Übersetzung nicht bloß beim Übersetzen der Heiligen Schrift aus dem Griechischen verzichtet, sondern im Besonderen ubi et verborum ordo mysterium est , an den Stellen, »wo sogar die Wortfolge ein Mysterium ist«. Da die Bedeutung des Worts Mysterium unbestimmt ist, besteht letztlich keine Einigkeit darüber, was Hieronymus eigentlich sagen wollte. Der im Westen geführten Debatte über die beste Methode des Übersetzens liegt also ein geheimnisvoll dunkles Wort zugrunde, von dem niemand so recht weiß, wie es zu übersetzen ist.
    In dem Spätlatein, wie Christen es schrieben, bedeutet mysterium in den meisten Fällen ein heiliges Sakrament. Hieronymus empfiehlt in seinem Satz daher anscheinend, sich genau an die Reihenfolge der Wörter des griechischen Neuen Testaments zu halten, weil dessen Wortfolge heilig ist. Louis Kelly versteht Hieronymus so:
    Ich gebe es nicht nur zu, sondern erkläre mit lauter Stimme, dass ich beim Übersetzen aus dem Griechischen, ausgenommen die Heilige Schrift, in der sogar die Reihenfolge der Wörter das Werk Gottes ist, nicht Wort für Wort, sondern Sinn für Sinn übersetzt habe. 5
    Diese Lesart stützt die Ansicht, dass Hieronymus eigentlich nicht die Sinn-für-Sinn-Übersetzung verteidigt – wie man zunächst meint –, sondern die Wort für Wort vorgehende. Warum aber sollte Hieronymus die Wortfolge im Griechischen für sakrosankt halten und dasselbe nicht auch bei den Schriften tun, die er aus dem Hebräischen und aus dem Aramäischen übersetzte? Die »griechische Ausnahme« ergibt keinen rechten Sinn, wenn Heiligkeit der entscheidende Grund dafür war, die Wortfolge der Quelle nachzuahmen.
    Hieronymus kann mit Mysterium freilich auch etwas anderes gemeint haben. Vielleicht wollte er darlegen, wie er bei einem Problem vorgeht, mit dem jeder Übersetzer irgendwann einmal konfrontiert ist: Was tun mit Ausdrücken, die man nicht versteht? Das ist für alle Übersetzer eine echte Frage, weil jeder jemals in Wort oder Schrift getätigten Äußerung etwas Unverständliches, Undeutliches oder Unbestimmtes anhaftet.
    Im alltäglichen Sprechen, Hören und Lesen bewältigen wir solche Leerstellen auf verschiedene Weisen. Vielleicht buchen wir eine unergründliche Wendung als Übertragungsfehler ab – als Aussprache- oder Tippfehler oder als Flüchtigkeit des Verfassers. Wir ersetzen sie umstandslos durch den Ausdruck, den wir sofort als den richtigen annehmen. In der mündlichen Interaktion tun wir das sogar automatisch, ohne überhaupt zu registrieren, welche Korrekturen wir beim Hören vornehmen. Beim Lesen verlassen wir uns darauf, dass der Kontext uns die richtige Bedeutung liefert. Wenn der Kontext nicht gut genug ist, um das zu leisten, überspringen wir ihn. Wir lesen ständig mit Auslassungen! Kein Mensch kennt die Bedeutung aller in Les Misérables vorkommenden Wörter, aber das hat noch niemanden daran gehindert, Victor Hugos Roman zu

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