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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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beigemessen. Unter anderem an diesen in der Sprache bewahrten Spuren lassen sich die gewaltigen Umwälzungen der sozialen und kulturellen Hierarchien ablesen, die mit der Erfindung der Schrift einhergingen. Schemenhaft erkennbar sind noch die ersten Anfänge der Lese- und Schreibkultur im Mittelmeerraum, als zwischen dem 3. und dem 1. Jahrtausend v. u. Z. die Alphabetschrift im Zusammenhang mit den Texten entstand, durch deren Übersetzung und Neuübersetzung sich die westliche Zivilisation seit dieser Zeit gebildet und geformt hat. Und vermutlich ist das auch der Grund, weshalb dieselben Wörter und Begriffe bis heute in der Diskussion über die besten Übersetzungsmethoden verwendet werden.
    Doch auch in der Moderne wissen wir nicht immer genau, was wir meinen, wenn wir behaupten, etwas sei buchstäblich wahr, und noch weniger, wenn wir eine Übersetzung als wörtliche bezeichnen.
    Im ausgehenden 19. Jahrhundert veröffentlichte ein franko-ägyptischer Scharlatan mit Doktortitel und einem Talent für den sozialen Aufstieg und das Schreiben eine neue französische Version von Tausendundeine Nacht . Sie war ein kommerzieller und kultureller Erfolg, führte dem bei der Elite bestehenden Interesse am sexuell so reizvollen Orient neue Nahrung zu und beeindruckte viele zeitgenössische Schriftsteller, darunter Marcel Proust. Der Übersetzer, Joseph-Charles Mardrus, sprach Arabisch und bezog auch arabische Texte in seine neue Sammlung altorientalischer Erzählungen ein, der er – mit einem kühnen Arabismus – den französischen Titel Les Mille Nuits et Une Nuit gab, gefolgt von einem Untertitel, wie er eindeutiger nicht sein kann: Traduction littérale et complète du texte arabe (»Die tausend Nächte und eine Nacht. Vollständige und wörtliche Übersetzung des arabischen Texts«). 8
    Der Untertitel ist weniger Beschreibung als vielmehr die Geltendmachung eines Status. Sein Werk »vollständig« zu nennen sollte es offensichtlich über vorherige Versionen hinausheben – warum aber glaubte Mardrus, den Rang seiner Arbeit durch den Hinweis auf die Wörtlichkeit steigern zu können?
    Ein Versehen war das nicht: Im Vorwort hebt Mardrus die große Bedeutung seines Untertitels zusätzlich hervor:
    »Es gibt nur eine ehrliche und logische Methode des Übersetzens: die unpersönliche, sich Eingriffen weitestgehend enthaltende Wörtlichkeit … Sie ist der höchste Garant der Wahrheit … Der Leser wird hier eine unverfälschte, strikt Wort für Wort vorgehende Version finden … Der arabische Text hat einfach das Alphabet gewechselt: Er erscheint hier in französischer Schrift, das ist alles …« 9
    Mardrus war kein Übersetzungstheoretiker im üblichen Sinn, und Orientalisten behaupteten, er sei auch kein Übersetzer gewesen. Ein Professor für Arabisch an der Sorbonne wies nach, dass viele Passagen der unterhaltsamen und gut lesbaren Kompilation Mardrus’ keinerlei textliche Grundlage im Arabischen hatten. Ihr Verfasser jedoch war eine feste Größe in der Pariser Kulturszene und nahm auf ihn abgeschossene Pfeile nicht ohne Gegenwehr hin. Freunde eilten zu Hilfe: André Gide behauptete, das von Mardrus vorgelegte Werk sei allen Darlegungen von Professor Gaudefroy-Demombynes zum Trotz sogar noch authentischer als das Original. 10 Der Übersetzer steigerte mit seinem eigenen Konter Gides außergewöhnliche Behauptung noch. Akademiker lernten Arabisch in der Schule, nicht durch das Leben im Nahen Osten.
    Um eine Übersetzung dieser Art richtig ausführen, um ein genaues Spiegelbild des arabischen Geistes und seines Genius geben zu können […], muss man in der arabischen Welt geboren sein und dort gelebt haben; […] um Geist und Buchstaben von Geschichten dieser Art angemessen übersetzen zu können, muss man gehört haben, wie sie im lokalen Dialekt klingen, dargeboten mit den volkstypischen Gesten und in der ihnen gemäßen Intonation von Geschichtenerzählern, die von ihrem Stoff ganz und gar erfüllt sind. 11
    Seine Übersetzung sei daher die »wörtliche« Version einer im Grunde mündlichen Quelle. Das von Mardrus auf Französisch geschriebene Wort stehe für das gesprochene Wort der arabischen Kultur. Wenn die akademischen Kritiker unbedingt eine Textquelle für die authentischen Arabischen Nächte aus seiner Feder haben müssten, bitte sehr, kein Problem: »Eines Tages werde ich, um M. Demombynes zufriedenzustellen, einen ein für alle Mal gültigen arabischen Text der Arabischen Nächte vorlegen und meine

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