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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Serviceschalter der Airline und reklamiert den Verlust. Der Mitarbeiter am Schalter verlangt billigerweise die Vorlage eines Belegs – eines Gepäckabschnitts zum Beispiel – und eine detaillierte Beschreibung dessen, was verloren gegangen ist, damit es schneller gefunden werden kann.
    Denen, die behaupten, beim Übersetzen gehe die Poesie verloren, könnte man abverlangen, sich demselben Prozedere zu unterwerfen. Da es für poetische Wirkungen keinen Abfertigungsschalter gibt, kann auf die Vorlage eines Abschnitts verzichtet werden. Aber es ist nicht unbillig, eine Beschreibung der fehlenden Stücke zu verlangen. Unterbleibt dies, läuft die Behauptung, ein Etwas namens »Poesie« sei verloren gegangen, darauf hinaus, einer Airline zu sagen, sie habe einen Gegenstand verbummelt, der keine erkennbaren Merkmale hat. Viel Eindruck wird man damit nicht schinden.
    Ein Leser, der sagt, die Poesie sei bei der Übersetzung verloren gegangen, behauptet damit auch, im Vollbesitz des Originals (das Poesie ist) und der Übersetzung (die keine ist) zu sein. Sonst könnte er gar nicht wissen, dass etwas auf der Strecke geblieben ist – und erst recht nicht, dass es die Poesie war.
    Gute Kenntnis beider beteiligten Sprachen genügt aber nicht, um die Behauptung zu begründen, das beim Übersetzen Abhandengekommene sei die Poesie. Überzeugend darlegen könnte das nur, wer in beiden Sprachen und ihren dichterischen Traditionen so bewandert ist, dass er die poetischen Wirkungen in beiden voll und ganz nachvollziehen kann. Viele werden diesem Maßstab nicht gerecht werden, unzumutbar ist der Test aber nicht.
    Das wäre die erste Voraussetzung, die man erfüllen muss, um den Verlust der Poesie zu reklamieren, und zwar unabhängig von der Richtung, in der die Übersetzung gereist ist – ob aus einer Fremdsprache in die eigene Sprache (lesen wir etwa Schlegel/Tiecks Shakespeare) oder ob aus der eigenen Sprache in eine fremde (will jemand zum Beispiel sagen, dass die dänische oder gälische oder japanische Version von »Wandrers Nachtlied« ihn halt nicht so anrührt wie die deutsche). Nur wenn man diese Kenntnisse von Sprache und Dichtung hat, kann man glaubwürdig behaupten, dass etwas auf der Strecke geblieben ist; aber auch wenn man darüber verfügt, wird es kein Klacks sein, dem Angestellten am Schalter darzulegen, worum es sich handelt.
    So wäre es für die Beschwerde nicht einschlägig, wenn man sagte, dass die Beziehung zwischen Klang und Bedeutung in der Übersetzung nicht dieselbe sei wie im Original. Wenn die Laute andere sind, weil die Sprache eine andere ist, und der Sinn zumindest weitgehend, wenngleich nicht haargenau, erhalten blieb, ist die Beziehung zwischen den beiden – eine Beziehung, die allen Linguisten seit Saussure zufolge eine arbiträre ist – zwangsläufig eine andere.
    Dass genau diese Beziehung zwischen Sinn und Klang das Poetische der Poesie ausmacht, ist eine in der englischen und ihren modernen Schwester-Literaturwissenschaften verbreitete Überzeugung. Daraus folgt aber keineswegs, dass ein Gedicht, ist es erst einmal übersetzt, seine poetische Qualität eingebüßt hat. Das neue Gedicht in der neuen Sprache, das für das Gedicht in der alten steht und es nachbildet, hat ja seinerseits wieder eine Beziehung zwischen Klang und Bedeutung vorzuweisen. Es ist nicht dieselbe wie beim Original, aber das ist kein Grund – überhaupt keiner – zu behaupten, ihr fehle es an Poesie. Gewiss, das neue Gedicht kann grässlich sein, wo das Original grandios war. Nur wenige Dichter schreiben ständig grandiose Verse. Aber es leuchtet ein, dass die Qualität eines übersetzten Gedichts nichts damit zu tun hat, dass es übersetzt wurde. Sie hängt allein vom dichterischen Können des Dichters ab, ungeachtet dessen, ob er außerdem als Übersetzer schreibt.
    Vielleicht gefällt Ihnen das am Anfang dieses Buchs auf Seite 15 zitierte Gedicht von Douglas Hofstadter ja nicht. Und das von Clément Marot gefällt Ihnen viel besser. Billigerweise können Sie über den Unterschied dann aber nur sagen, dass Hofstadter (in diesem Fall) Sie als Dichter weniger beeindruckt als Marot. Wenn Sie nicht wussten, dass Hofstadters dreisilbiger Vers Empfindungen in Worte fasst, die zuerst von einem anderen Dichter in einer Form ausgedrückt wurden, die der seinen ziemlich genau entspricht, gefällt es Ihnen vielleicht immer noch nicht – Sie kämen aber nicht auf die Idee, als Grund für Ihre Enttäuschung anzuführen, dass die

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