Was macht der Fisch in meinem Ohr
Poesie beim Übersetzen halt verloren gegangen sei. Und da es so ist – Sie wussten es nicht, und dasselbe mag für viele Gedichtzeilen gelten, die Sie in Ihrer Sprache kennen, ohne gleichzeitig zu wissen, dass sie inhaltlich und formal Zeilen oder Strophen entsprechen, die zuvor in einer anderen Sprache geschrieben wurden –, können Sie Ihre Abneigung gegen Hofstadters Übersetzung nicht damit rechtfertigen, dass Sie sagen, deren nicht hundertprozentige Perfektion sei dem Umstand geschuldet, dass die Poesie beim Übersetzen halt auf der Strecke bleibt. Genauso verhält es sich, wenn Ihnen umgekehrt Hofstadters Gedicht viel besser gefällt als das von Marot. Oder wenn irgendetwas Sie zu der irrigen Annahme verleitet haben sollte, Marots französisches Gedicht sei »Gentle gem …« nicht vorausgegangen, sondern vielmehr von ihm angeregt worden. Im Grunde gilt für die große Mehrheit der Gedichte, dass ein normaler Leser nur selten zuverlässig feststellen kann, ob hier eine Übersetzung vorliegt oder nicht, und wenn ja, inwiefern. Schon von Anbeginn der Zeiten an haben Dichter immer wieder andere nachgeahmt, plagiiert, haben Verse importiert und übersetzt.
Dante, Du Bellay, Alexander Pope, Ludwig Tieck, August Wilhelm von Schlegel, Boris Pasternak, Rainer Maria Rilke, Ezra Pound, Jacques Roubaud, Robert Lowell, C. K. Williams – an welchen Dichter Sie auch denken, Sie haben fast immer auch an einen Übersetzer gedacht. Die westliche Tradition zieht keine scharfen Trennungslinien zwischen dem Schreiben von Gedichten, dem Schreiben von Übersetzungen und dem Schreiben von Gedichten in Übersetzung. So unterschiedlichen Sprachen wie Französisch, Italienisch, Russisch, Farsi, Englisch und Malaiisch ist gemeinsam, dass dichterische Formen – das Sonett, die Ballade, das Rondeau, das Pantun, das Ghasel – im Verlauf der letzten 800 Jahre von der einen in die andere eingewandert sind. Dichterische Stile – Romantik, Symbolismus, Futurismus, Akmeismus, Surrealismus – sind europäisches Gemeingut und für deutsche Dichtung so typisch wie für polnische. In jeder sogenannten dichterischen Tradition sind andere Traditionen aufgehoben. Dem fragwürdigen Diktum von der Poesie als dem, was bei der Übersetzung verloren geht, müssen wir das leichter belegbare Faktum entgegenhalten, dass die Geschichte der westlichen Dichtung in vieler Hinsicht die Geschichte übersetzter Dichtung ist.
Und dennoch: Wurde der Spruch von der beim Übersetzen verloren gegangenen Poesie Ende 2007 auf 666 englischen Websites zitiert, 1 war die Zahl im Mai 2011 bereits auf über 20000 gestiegen. Noch verblüffender ist, dass man die Fälle, in denen dieser oft gehörte Spruch nicht dem amerikanischen Dichter Robert Frost zugeschrieben wird, an einer Hand abzählen kann. Frost hatte mit dieser in einem Interview gemachten Bemerkung jedoch seine Ansicht zum vers libre dargelegt, bei dem »die Poesie … das ist, was verloren geht, ob man ihn in Prosa oder in Verse übersetzt«. 2 Wie bei vielen anderen überkommenen Vorstellungen vom Übersetzen erweist sich auch bei dieser, dass sie auf tönernen Füßen steht.
Wahr ist dennoch, dass Gedichte Übersetzer vor Aufgaben stellen, die nicht nur schwierig sind, sondern in mancher Hinsicht über das Übersetzen hinausgehen. Wie viele Menschen hänge ich sehr an Gedichten, die ich in meiner Jugend gelernt habe. Sie sind mir besonders lieb, und ich schätze ihren Klang genauso wie ihren Sinn. Als Student, der ich damals war, las ich Verse in anderen Sprachen – hauptsächlich, um die Sprache zu lernen, in der sie geschrieben waren. Ich strengte mich an, um sie zu verstehen, und wahrscheinlich ist das der Grund, weswegen sie mir bis heute in Erinnerung geblieben sind.
Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn
aus der Engel Ordnungen?
und gesetzt selbst es nähme
einer mich plötzlich ans Herz:
ich verginge von seinem
stärkeren Dasein.
Mir könnte keine englische Übersetzung dasselbe bedeuten, ich fände bei keiner diese Vollendung und innige Nähe, dieses Geheimnis – so wenig wie bei einer Paraphrase auf Deutsch. Ich liebe den Klang und die Wörter einer Sprache, die ich meistern wollte und teils dadurch erlernte, dass ich genau diese Zeilen analysierte und mir einprägte. Die Emotion, die für mich und für mich allein im Beginn der Duineser Elegien steckt, rührt aus meiner Vergangenheit her. Ich kann Ihnen zwar auf diese umständliche Weise davon erzählen, aber direkt daran teilhaben
Weitere Kostenlose Bücher