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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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den wir gerade unterschreiben, ohne ihn vorher durchgelesen zu haben.
    Die Wörter des Rechts sehen häufig genauso aus wie die Wörter Ihrer gewohnten Sprache, sind es aber nicht, wenn es sich um juristische Begriffe handelt. Sie verweisen auf nichts außerhalb der gesellschaftlichen Institution und des geistigen Systems, den das Recht bildet. Sie können sich vielleicht genau vorstellen, was »Mord« bedeutet, wenn Sie das Wort in einem Satz verwenden, was für Sie aber wie Mord aussieht, kann in einer juristischen Beschreibung ein vorsätzlicher Mord sein, ein Mord mit bedingtem Vorsatz , ein Totschlag , eine Tötung oder sogar ein Kollateralschaden . Welche Straftat vorliegt, hängt von dem Rechtssystem ab, das dort gilt, wo jemand gewaltsam zu Tode kam, und ansonsten nur davon, welche Straftaten dieses System unterscheidet und wie es sie definiert – mit den schriftlich niedergelegten Begriffen des Rechts.
    In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hielt ein Professor für Linguistik an der Universität von Genf eine Vorlesungsreihe über das Wesen der menschlichen Sprachen. Ferdinand de Saussure schrieb die Texte nicht auf, doch nach seinem frühen Tod 1913 trugen Studenten ihre Mitschriften zusammen und brachten die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft heraus, die seitdem als Brevier für das Nachdenken über Sprache zurate gezogen werden. Ob Saussures Lehre das letzte Wort über die Sprache als solche ist, sei dahingestellt, sie eignet sich aber ausgezeichnet zur Ermittlung der Gründe, warum das Übersetzen der Sprache des Rechts eine so knifflige Sache ist. 1
    Saussure war bereits ein berühmter Indogermanist, in seinen Vorlesungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft wollte er jedoch erläutern, was eine Sprache als Ganzes und als System zu einem beliebigen Zeitpunkt ist. Das Fundament seiner Darlegungen war eine für seine Zeit revolutionäre neue Definition des sprachlichen Zeichens. Ein Zeichen hat eine materielle Existenz als Lautfolge oder Schriftzeichen, die er Signifikant (auf Französisch signifiant ) nannte, zwingend aber auch eine Bedeutung – ein significandum oder Signifikat (auf Französisch signifié ). Das Zeichen ist weder Signifikant noch Signifikat, sondern beides, und zwar in so enger Paarung, dass sich das eine vom anderen so wenig trennen lässt wie die beiden Seiten eines Blatts Papier. Im Gegensatz zum Papier sind Bezeichnendes und Bezeichnetes beim Zeichen aber nicht naturnotwendig verbunden – sie haften einfach auf diese Weise aneinander. Ein Zeichen hat nach Saussures Lehre fünf Besonderheiten. Es muss ererbt sein, weil Zeichen einer Sprache niemals ad hoc erfunden werden können. Es muss sich übermitteln lassen, weil Zeichen heißt, dass zwischen uns Übereinkunft über seine Bedeutung besteht und seine Bedeutung nicht das ist, was eine beliebige Person dafür hält. Ein Zeichen muss unveränderlich sein, weil man mit demselben Zeichen nicht willkürlich aus einem Tisch einen Fisch machen kann. Es muss frei sein, damit man es in einem Sprech- oder Schreibakt mit anderen Zeichen verbinden kann. Und schließlich muss die innere Beziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite, die im Zeichen eine untrennbare Verbindung eingehen, eine arbiträre sein: Man kann nicht begründen, warum die Buchstaben TISCH im Unterschied zu allen anderen zur Bezeichnung eines »Tischs« verwendet werden, sondern nur feststellen, dass es so ist.
    Woher also wissen wir, dass dieses Zeichen nicht jenes Zeichen ist? Dass »Fisch« und »Tisch« für zwei unterschiedliche Zeichen stehen? Weil sie im Hinblick auf etwas differieren, was ein Strukturelement nicht der »Sprache« im abstrakten Sinne, sondern der Sprache Deutsch ist. Soll heißen, der Unterschied zwischen den Lauten, die durch »f« und »t« abgebildet werden, ist ein Strukturelement des Deutschen – und die Gesamtstruktur, also die deutsche Sprache, besteht ausschließlich aus Unterschieden oder Gegensätzen dieser grundlegenden Art. Eine Sprache ist demnach nichts anderes als ein System von Unterschieden, weil ein Zeichen einer beliebigen Sprache erschöpfend durch alles definiert ist, was es nicht ist. Und Deutsch ist eben deshalb Deutsch und nicht beispielsweise Englisch oder Französisch oder Chinesisch, weil es auf einer spezifischen Menge solcher Unterschiede beruht. Stimmhebungen und -senkungen beispielsweise kommen in allen Sprechakten vor, aber sie sind nicht Teil des Deutschen. Im Chinesischen hingegen haben Tonhöhen

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