Was macht der Fisch in meinem Ohr
seiner Schuld als unschuldig und wird daher formal wie jeder andere Zeuge des Verbrechens behandelt. Deswegen sind amerikanische Gerichtsfilme so viel aufregender als beispielsweise französische Filme desselben Genres. Die in Nürnberg angewandte Prozessordnung war eine Mischung aus beiden Systemen: Es gab keine Geschworenen, wie es der Fall gewesen wäre, hätte man das Verfahren vollständig nach britischem oder amerikanischem Recht durchgeführt, sondern der Prozess fand in Form eines Tribunals statt, dem Richter aus den Siegermächten vorsaßen. Die Beschuldigten wurden allerdings ins Kreuzverhör genommen und auf Deutsch befragt. Da ein Beschuldigter nach deutschem Recht in einem gegen ihn gerichteten Verfahren aber nicht als Zeuge aussagen kann, ging es in den Verhandlungen über das für die Nürnberger Prozesse geeignete Verfahren nicht nur um Sprache im engeren Sinne, sondern auch um die unvereinbaren Differenzen zwischen den Sprachen, Institutionen und Gepflogenheiten unterschiedlicher Rechtssysteme. Auf dem Gebiet des internationalen Rechts ist das Übersetzen ständig mit gewaltigen Hindernissen dieser Art konfrontiert: Juristische Begriffe bedeuten nicht dasselbe, wenn sie übersetzt werden, und die Institutionen, denen sie dienen, sind nicht dieselben.
Die Durchsetzung des internationalen Rechts ist in den vergangenen 60 Jahren in gewaltigem Tempo vorangekommen. Die angestrebte Wirkung – politisch gewollt, aber ausgeführt durch Teams juristischer Fachübersetzer – ist, die unterschiedlichen Bedeutungen von Wörtern aus unvereinbaren Rechtssystemen stärker zu harmonisieren oder, wie Kritiker dieses Vorgangs einwenden, zu nivellieren und die Vorstellung davon, was das Recht ist, zu normieren. Karen McAuliffe berichtet, die beim Europäischen Gerichtshof tätigen Sprach- und Rechtssachverständigen seien sich darüber im Klaren, dass das EU-Recht als Rechtssystem »auf Angleichungen von Recht und Sprache unterschiedlicher Rechtskulturen und unterschiedlicher Rechtssprachen beruht, die zusammengenommen ein neues supranationales Rechtssystem mit eigener Sprache gestalten«. 4
Genau das ist in der Saussure’schen Zeichentheorie angelegt. Sprachwissenschaftler bedenken nämlich nur selten, dass man tatsächlich neue Systeme aufbauen kann, wenn ausreichendes Bemühen und der politische Wille vorhanden sind.
21. CECI N’EST PAS UNE TRADUCTION: SPRACHENPARITÄT IN DER EUROPÄISCHEN UNION
Dieser Vertrag ist in einer Urschrift in dänischer, deutscher, englischer, französischer, griechischer, irischer, italienischer, niederländischer, portugiesischer und spanischer Sprache abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist; er wird im Archiv der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt; diese übermittelt der Regierung jedes anderen Unterzeichnerstaats eine beglaubigte Abschrift.
Nach dem Beitrittsvertrag von 1994 ist der Wortlaut dieses Vertrags auch in finnischer und schwedischer Sprache verbindlich. Nach dem Beitrittsvertrag von 2003 ist der Wortlaut dieses Vertrags auch in estnischer, lettischer, litauischer, maltesischer, polnischer, slowakischer, slowenischer, tschechischer und ungarischer Sprache verbindlich.
Dies ist der Wortlaut einer neueren Version der sprachlichen Grundregel der Europäischen Union. Ursprünglich niedergelegt wurde sie bereits 1957 in Artikel 248 der Römischen Verträge, genauer gesagt im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft; diese Körperschaft und alle ihr unterstellten Behörden sollten mit den Regierungen aller Mitgliedsstaaten in der Sprache des jeweiligen Landes kommunizieren. Das klingt nach einer maßvollen Forderung, war eigentlich aber eine Revolution. Im Gegensatz zu allen früheren Reichen, Staaten, Vertragsgemeinschaften und internationalen Organisationen hat die Europäische Union nicht die eine Sprache und auch keine begrenzte Anzahl von Sprachen. Sie spricht in allen Sprachen, die sie benötigt, welche das auch sein mögen. Durch einen politischen Willensakt wurde die bis dato ungrammatische Wendung »in einer Urschrift in dänischer, deutscher, englischer … Sprache abgefasst« zu einer verbindlichen Norm.
Zunächst gehörten sechs Staaten – Belgien, Frankreich, Holland, Luxemburg, Italien und Deutschland – und vier Sprachen – Französisch, Niederländisch, Deutsch und Italienisch – zu dem Staatenverbund. Seither ist die Union stark gewachsen und besteht heute (Stand Frühjahr 2013) aus 27
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