Was man so Liebe nennt
ein bißchen schon. Ich vergesse nur dauernd, sie einzunehmen.«
Tess streckte die Hände aus und legte sie ihm sanft, ganz sanft, an die Schläfen, hielt einfach sein Gesicht zwischen ihren gestreckten Fingern. Was auch eine Art Massage war, die ihm schon oft geholfen hatte. Allein die Berührung ihrer Hände wirkte dann auf sein brennendes Gesicht beruhigend wie eine Salbe. Auch diesmal funktionierte es: Er spürte, wie zumindest für einen Moment Ruhe und Linderung in seine Nebenhöhlen einkehrten. Durch einen schmalen Schlitz zwischen seinen Lidern, die ihre langen weißen Finger sanft geschlossen hielten, sah er Tess’ Gesicht, das voll Zärtlichkeit und Vertrautheit lächelte.
Tess und Vic waren nicht für alle Welt das perfekte Paar. Tess — die Sorte Frau, die gern als »gutaussehend« bezeichnet wird, was heißt, daß ihr Gesicht, obwohl nicht häßlich, in Richtung hart neigte — hatte im Frühstadium ihrer Beziehung ständig die Anti-Vic-Ratschläge von Freunden abwehren müssen, die davon überzeugt waren, daß er nicht zu ihr paßte: Er wäre zu faul für sie, verträte die unmöglichsten Meinungen, gucke viel zu gern anderen Frauen nach und sei zu gefährlich.
Sie hatten sich im Sommer 1995 kennengelernt, bei einer Weinprobe bei einem Händler unter den Arkaden an der South Bank. Tess war damals Einkäuferin für Glug, eine kleine Kette von alternativen Weinläden. Vier ihrer Weine — zwei französische und zwei spanische, alle rot — stellte sie bei dieser Probe vor. Vic hatte gerade einen Radiowerbespot für Glug gemacht und Ivan, Glugs PR-Mann, eine Einladung zu der Probe abgeschwatzt. Wie sich herausstellte, war Ivan in seinen Zwanzigern ein heimlicher Fan von Patho-logy gewesen.
»...und >Cold as Stone<, was ist damit?« fragte Ivan gerade zwischen zwei Schlucken von seinem australischen Sauvignon. Er und Vic hatten während der letzten Stunde den Ausspuckeimern wenig Aufmerksamkeit geschenkt. »Standing in the rain it is so cold / You auctioneer, you bought and then you sold!!« sang oder vielmehr krächzte er tonlos. Sein ziemlich spärlicher Spitzbart, eindeutig ein Versuch, sein wachsendes Doppelkinn zu verbergen, hüpfte im Rhythmus dazu auf und ab.
»Jaaah«, murmelte Vic nickend, nahm einen tiefen Schluck von seinem chilenischen Merlot und kam zu dem Schluß, daß keiner der Weine bei dieser Probe es wert war, Ivan zu ertragen. Höchstens, wenn er sich noch mehr betrank.
»>Brave New World<«, das war großartig. >And the brave new world / Has completely returned! <«
»Ivan.«
»Was?«
»Wer ist diese Frau?«
Ivan drehte sich um oder vielmehr riß seinen Kopf herum und sperrte den Mund auf.
»Welche?«
»Die große da, in dem Kostüm. Mit den dunklen Haaren.«
Ivan blinzelte. »Tess? Was ist mir ihr?«
»Wer ist sie?«
»Sie ist selbständige Einkäuferin. Kutschiert in der Welt herum, auf der Suche nach kleinen, nicht in Genossenschaften organisierten Winzern, und dann nimmt sie sie für ein paar Alternativweinläden und Supermärkte hier unter Vertrag. Warum? Sie gefällt dir wohl? Eh? Überrascht mich nicht. Wie hieß euer einer Song wieder — >Feeling like I’m gonna blow / So many women out there on Show!<«
»Ivan«, sagte Vic, während er schon im Gehen war, »der ist von Aerosmith.«
»Welcher Wein ist dies?«
Tess drehte sich um, froh über einen Vorwand, das Geplänkel mit James Foy zu beenden, einem zweiundsiebzigjährigen Weinkenner, der bei jeder Probe auftauchte und sich jedesmal auf sie stürzte in der Annahme, wenn er sie nur oft genug einlud, uralte Flaschen von Mouton Rothschild und Petrus in seinem Privatkeller mit ihm zu bechern, würde Tess irgendwann weich werden. Noch auf keiner Probe hatte Tess erlebt, daß ein Mann ihr diese Frage stellte; um genau zu sein, auch noch keinen, der so aussah wie dieser hier — Männer, die zu Weinproben gingen, trugen im allgemeinen keine alten Anzughosen, bedruckte T-Shirts oder waren, wenn Tess den blauen Schimmer unter seinem linken T-Shirtärmel nicht fehlinterpretierte, tätowiert; und im allgemeinen hatten sie auch keine wilde, in alle Richtungen abstehende dunkle Haarmähne mit den dazu passenden Augen. Dazu war er noch groß und schlaksig, beinahe mager — aber Tess hatte schließlich ein Faible für große Männer, da sie sich beim Küssen nicht gern runterbeugte.
»Er stammt von einem kleinen Weingut in Nordspanien, im Grunde ähnlich wie ein Rioja, ist aber eine Mischung aus Merlot-,
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