Was man so Liebe nennt
»irgendwelche Veranstaltungen, Aktivitäten oder dergleichen, die Ihnen liegen würden?«
»Ich würde sehr gern irgendwo hin...«, Sylvia zögerte, den Finger immer noch an die Lippen gepreßt. Dann streckte sie ihn plötzlich nach vorn und sagte, »wo sie viele Denksportspiele mit den Leuten machen.«
VIC
A n dem Wochenende tat Vic etwas, das er noch nie getan hatte: Er strengte sich an. Er fuhr mit seinem Roller los und kaufte eine Reihe von Tüchern und Behängen und nagelte sie an die Wände der Wohnung überm Rock Stop. Für das Schlafzimmer besorgte er ein paar nachtblaue Kerzen und für den anderen Raum eine Weihnachtslichterkette, die er über mehrere ringsherum aufgestellte Gitarren spannte, und in die Mitte dieses Kreises aus Musik und Licht stellte er den einzigen Tisch der Wohnung und legte ein rotes Tischtuch auf. Er steckte eine Kerze in eine Flasche, fragte sich einen Moment, ob er nicht vorher ein paar Kerzen darin hätte runterbrennen lassen sollen, um jenen Wachstropfenfontäneneffekt zu erzielen, den man aus Bistros kennt. Er legte Messer und Gabeln bereit und bestellte für zehn Uhr bei einem Chinesen ein Take-away-Menü. Das einzige, was wirklich angesagt gewesen wäre — ein paar neue Leinentücher für das Bett zu kaufen — , fiel ihm nicht ein, aber glücklicherweise hatte Emma daran gedacht, die sie hoch in die Luft warf, als sie die Lichterkette angehen sah: In Plastik eingeschlagenes Weiß regnete auf sie herab, als sie sich küßten.
Kurz nach dem Essen gingen sie ins Bett und liebten sich, und wenn auch nicht gerade mechanisch, so doch zweifellos kürzer als sonst, so als seien sie erpicht darauf, die schlafend, oder vielmehr dösend in den Armen des anderen verbrachte Zeit zu maximieren: Das, eher als Sex, war jetzt der verbotene Akt; die Sache, die sie normalerweise nicht tun durften, war die Quelle der Freude. Aber ehe das postkoitale Verschmelzen begann, stand Vic auf und sagte:
»Ach, das hätte ich ja beinahe vergessen!«
Er ging hinüber zu einer Tragetasche, die in der Ecke des Zimmers lag. Wieder lernte er ein neues Gefühl kennen: Befangenheit wegen seiner Nacktheit; er spürte Emmas Augen auf sich, als er sich über die Tüte bückte, und fürchtete, er hätte vielleicht Flecken auf dem Rücken oder daß die Hockstellung seines Hinterns womöglich affenartig aussah. Er drehte sich um, ging zurück zum Bett und hielt Emma eine schmale Schachtel hin.
»Was ist das?« fragte sie, setzte sich auf und preßte die Bettücher an die Brust.
»Das Meer«, antwortete Vic und reichte ihr eine CD. Sie hielt sie in das flackernde Licht der Kerze neben dem Bett. Auf dem Cover war das Meer zu sehen, realistisch, aber nicht sehr gut gemalt: ein von sanften Wellen überspülter Strand unter einem rosa und orangenen Himmel und darunter der Titel Entspannen mit der Natur, Vol. I — Meereswellen bei Sonnenuntergang.
»Ich hab sie in diesem Esoterikladen gegenüber gefunden«, sagte Vic und nahm Emma die CD aus der Hand. Aus einer der vielen Kisten neben dem Bett holte er einen Technics-Stereorecorder, befreite ihn von seinen Styroporblöcken und stellte ihn auf den Boden. Dann drückte er auf einen Knopf, und die ovale Abdeckung surrte einladend hoch. Er schob die CD ein, drückte auf einen anderen Knopf und kroch wieder ins Bett.
Ein paar Sekunden lagen sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt, zwei dünne Kissen als einziger Puffer zwischen ihrer Haut und dem bröckeligen Putz. Sie sahen sich an. Emmas Augen, fiel Vic auf, wirkten violett im Halbdämmer; und die Verteilung von Licht und Schatten im Zimmer zeichnete die Konturen ihres Gesichts weicher, füllte es aus, wo es mager war. Der Stereoklang durchflutete jetzt den ganzen Raum, eine Welle nach der anderen, schwoll von Wassergeflüster zu einem kurzen, ruhigen Plätschern an, wie das Meer, wenn es auf Sand trifft und nicht auf Felsen, und dann das sanfte Zischen, das Ssshh, wenn es zurückfließt. Still, ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Emma um und blies die Kerze aus, und sie glitten zusammen unter die Tücher in die Dunkelheit, wie Kinder, für die unter der Bettdecke überall sein kann.
»Sind wir in Herne Bay, Liebling?« sagte sie.
Vic spürte, wie sein Kinn ihre Stirn berührte, als er nickte, erstaunt, wie glatt ihm das so ganz unironisch gesagte Wort »Liebling« runterging. Der Klang der Wellen, ihr immer gleicher Refrain, so hypnotisch wie ein Schlummerlied, schaukelte ihn in den Schlaf, und er spürte, wie
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