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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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fragte sich, ob sie es vielleicht nur sagte, um ihn zum Widerspruch zu provozieren. Aber etwas in ihm sperrte sich dagegen, es zu leugnen. Sein Widerstand rührte teils aus dem Ort in seinem Inneren her, wo er wußte, wie gefährlich Versprechungen waren, ein Wissen, das die Jahre seiner Promiskuität geschärft hatten. Teils aber auch von einem Punkt auf seiner inneren Landkarte, von dessen Existenz er kaum etwas ahnte, auf den Emmas Bemerkung aber plötzlich wie mit dem Zeigefinger gewiesen hatte — der ruhig und beständig in ihm fließenden Quelle von Loyalität und Zuneigung zu Tess, einer Quelle, von der er in letzter Zeit nicht getrunken hatte. Und so widersprach Vic Emma nicht, sondern sagte statt dessen: »Also gut. Ich bin Samstag abend hier.«

JOE

    E s gibt schönere Orte auf der Welt als das Büro der Stadtverwaltung des Woolwichbezirks zur Antragstellung für die Aufnahme in Pflegeheime. Weiß Gott, dachte Joe, als er die von Wand zu Wand reichenden Schränke voller Akten auf sich wirken ließ — wieso haben sie bloß alle solche Eselsohren? wunderte er sich — , das trübe Doppelfenster, den fadenscheinigen grauen Teppichboden, der so schlecht verlegt war, daß er an den Rändern Wellen gegen die Fußleiste schlug, der Resopaltisch vor ihm mit den olympischen Ringen von Kaffeetassenabdrücken in der Mitte, die in solchem Winkel angebrachten Lampen, daß alle Gesichter im Raum in Halbschatten getaucht waren und so noch gezeichneter und gestreßter aussahen, als sie sowieso schon waren, die verschiedenen, offenbar blindlings aufgehängten Informationsblätter an der Wand, die an die düstersten Seiten des Lebens erinnerten ( Die ersten Schritte bei Krebs, Südlondoner Nachtasylführer für Obdachlose, Umgang mit Invalidität)... weiß Gott, dachte Joe, an jedem anderen Ort auf der Welt — angefangen mit Ruanda — wäre man lieber.
    Der Zweck des Büros — die Befragung von alten Leuten zwecks amtlicher Erhebung, wie hinüber ihr Hirn schon war dank Alzheimer oder welche der Tausenden Heimsuchungen des Greisenalters sich ihres Körpers bemächtigt hatten, um danach das passende Pflegeheim für sie auszusuchen — harmonisierte vollkommen mit seinem Erscheinungsbild. Ms. Andrews und Mr. Panjiit machten jedoch, um gerecht zu sein, das beste daraus. Ihr Ton blieb unverändert munter, und sie stellten ihre Fragen — ein leichtes Stadt-Land-Fluß-Quiz — mit unbeirrter Geduld, gleich wie enttäuschend und traurig Sylvias Antworten ausfielen.
    Emma und Joe waren in den letzten Wochen an einem solchen Punkt von Verzweiflung angelangt, daß sie sich zu diesem Schritt gezwungen sahen. Angefangen hatte es damit, daß sie vor zwei Wochen in Sylvias Wohnung gekommen waren und Boris auf ihrem Bett liegen sahen. Sie hatte ihm drei ihrer handgestrickten Pullover angezogen, ein Paar Strumpfhosen von ihr, vier verschiedene Socken über die Pfoten gestülpt und einen über seinen Schwanz. Auf seinem Kopf saß einer jener Plastikregenhüte, wie ihn nur alte Damen besitzen. »Er hat so gefroren!« protestierte Sylvia. Gefroren hatte er nicht; ein winziger Bruchteil von Joes biochemischem Wissen genügte, um zu erkennen, daß er tot war. Emma erklärte es behutsam ihrer Mutter, die in Tränen ausbrach. Joe fand es freundlich von ihr, daß sie bei ihrer Erklärung die offenkundige Todesursache aussparte, nämlich daß Boris verhungert war.
    Nach einer schwierigen Beerdigung — schwierig für Sylvia zumindest; Joe hatte Boris seine Flurwand-Graffiti nie recht verziehen, und Emma schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein — hatten sie geglaubt, damit sei die Sache ausgestanden. Am nächsten Tag mußte Joe jedoch von der Arbeit nach Hause rasen, nachdem Emma ihn verzweifelt angerufen hatte, ihre Mutter sei verschwunden. Joe fuhr die dreiundzwanzig Meilen nach Südostlondon und entdeckte Sylvia dann, wie sie die Pepys Road hochlief und sich nach allen Richtungen umsah. Als er ausstieg und sie fragte, was sie tue, sagte sie: »Ich suche meinen Hund. Ich kann ihn nirgendwo finden.« Als er Sylvia schließlich überredet hatte, mit ihm heimzufahren — »Ich steig nicht zu Fremden ins Auto!« —, mußte Emma ihr dann von vorn erklären, daß Boris tot war, worauf Sylvia wieder in Tränen ausbrach.
    In abgewandelter Form war das gleiche dann jeden Tag während der letzten anderthalb Wochen passiert. Emma war schließlich so am Ende gewesen, daß sie ganz gegen ihr sonstiges Zartgefühl ein großes Schild in Sylvias

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