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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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vor ihnen setzte sich in Bewegung, so wie sich Staus oft aus irgendeinem unerfindlichen Grund plötzlich auflösen. Tess sah nach vorn und fuhr los, an der Ampel vorbei, und bog dann rechts in die Croxted Road ein; erst als sie sich in den Verkehr in Richtung Sydenham eingefädelt hatte, sah sie wieder zu Vic hin und bemerkte, wie er wütend die Lippen zusammenpreßte.
    »Was ist?« fragte sie
    »Nichts.«
    »Ach, zum Teufel noch mal, Vic — lüg dir doch nicht selber was vor. Bitte nicht diese Masche, tu doch nicht so, als wärst du ihr bester Freund gewesen, bloß weil sie plötzlich gestorben ist. Suhl dich nicht in falschen Gefühlen.«
    Vic starrte sie wieder an. Seine Stirn war gerunzelt, so als würde er etwas abwägen. Dann stierte er wieder zur Windschutzscheibe hinaus, sein Blick so leer wie durch eine verspiegelte Sonnenbrille. »Sie war eine süße Frau«, murmelte er schließlich.
    »Jaah«, sagte Tess. »Das war sie. Ich mochte sie sehr gern. Ich kannte sie bloß nicht besonders gut.« Er ist wirklich komisch, dachte sie. Vielleicht war er ihr doch näher, als sie dachte. »Es ist wirklich seltsam, aber gerade gestern habe ich an Emma gedacht. Als ich mich beeilte heimzukommen, weil ich mit dir verabredet war — blöd wie ich bin! Sie kam mir in den Sinn, als ich einen Moment auf der Parliament Bridge stehenblieb.«
    »Da hast du dich ja wirklich sehr beeilt...«
    Sie sah zu ihm hin, endlich! Die Andeutung eines Grinsens in seinem Gesicht.
    »Gebongt. Aber... Gott, Vic, es muß gegen sechs gewesen sein... jetzt fällt es mir ein, weil ich auf die Uhr sah. Es war zwanzig nach sechs.«
    »Und?«
    »Na, das war doch... du weißt schon... fast genau der Moment, wo sie...«
    »Also, wenn ich mir nichts vormachen soll, dann verschon du mich bitte mit deinen telepathischen Fähigkeiten!«
    Sie bog links in den Sydenham Hill ein und schaltete ihren nicht auf Kat umgerüsteten Hillman Imp in den ersten Gang runter. Der Motor röhrte vor Anstrengung, das ganze Blech den Hügel hochzuschaffen.
    »Auf welche Art kam sie dir in den Kopf?« fragte Vic.
    »Ach, ich genoß bloß den Blick, den man von der Themse aus hat. London sah wirklich wunderschön aus. So wie alle Welt es sich immer vorstellt, wie es aber so selten ist.« Sie verstummte; der männlichen Seite in ihr war ein bißchen unwohl bei dieser Schwärmerei. »Und dann fiel mir ein, daß Emma mir einmal erzählt hatte, wie sie sich damals, als sie von Cork nach London kam, alle Sehenswürdigkeiten angucken wollte, aber so arm war, daß sie sich keinen Stadtführer leisten konnte und sich deshalb mit einer alten Straßenkarte behalf.«
    »Was hat sie denn damit gewollt?«
    »Sie guckte einfach im Anhang nach romantisch klingenden Straßennamen. Lamb’s Heart Yard. Old Seacoal Lane. Old Paradise Street. Golden Square. Und dann ging sie los und erwartete Dickenssche Giebel und Straßen mit Kopfsteinpflaster und fand natürlich bloß Büros und Gewerbebetriebe und Tiefgaragen. Aber anscheinend hat sie nie wirklich aufgegeben. Sie sagte, sie würde immer noch einen Riesenumweg machen, wenn sie auf einem Schild einen Straßennamen sieht, der so klingt, als könnte William Blake dort entlanggegangen sein.«
    Tess fuhr an den Bordstein vor Vics Haus; mit einem Ruckeln kam der Hillman zum Stehen. Ohne nachzudenken, wie im Reflex, löste sie den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus, ein Zeichen ihrer Vertrautheit mit Vic: Sie waren über das Stadium hinaus, wo sie ihn ansehen und fragen mußte: Soll ich mit rein kommen? Was Vic nur recht sein konnte, denn wäre sie nicht so schnell ausgestiegen, hätte sie gesehen, wie ihm die Tränen übers Gesicht liefen.

SYLVIA

    S ylvia war vom Stadtverwaltungsbüro des Woolwichbezirks zur Einstufung für die Aufnahme in Pflegeheime für etwas auserwählt worden, das unter dem Namen betreutes Wohnen rangierte: einer Reihe von möblierten Zimmern, die das Park Lodge-Pflegeheim, an das der Woolwichbezirk diesen Bereich staatlicher Gesundheitsfürsorge delegierte, zu »Seniorenapartments« verklärte — winzige Backsteinbungalows, die sich wie Fertighäuser oder Geisterferienwohnungen am Meer um einen zentralen Gebäudeblock drängten, der größer als all jene Wohneinheiten war und eine komplexe Schaltzentrale beherbergte, die die unzähligen Alarmrufe und Notsignale der Bewohner entgegennahm. Emma hatte ihre Zweifel gehabt, was die Unterbringung ihrer Mutter hier betraf, zum Teil, weil Park Lodge gegenüber dem

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