Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)
Level.
Nach einem zweiten Schlafzimmer stehe ich plötzlich in einem Raum von der Größe einer mittleren Sporthalle. Die Decke und die Wände sind zur Hälfte verglast, und ein paar hundert Quadratmeter Parkettboden erstrecken sich zu meinen Füßen. Ich komme mir vor wie in einer überdimensionalen Käseglocke. Vor lauter Selbstbefriedigung scheint der Architekt aber die Installation der Lichtschalter verschlampt zu haben, und so zögere ich mich langsam an der Wand entlang, während ich mir schnell die ersten drei Verhaltensregeln für Wohnungen mit mehr als tausend KuEms in Erinnerung rufe:
1) Nichts sagen ohne einen Anwalt.
2) Nichts tun ohne einen Anwalt.
3) Nichts sagen oder tun wegen der anderen Anwälte.
Wie immer ignoriere ich alle gut gemeinten Ratschläge und tapse weiter in die Tiefe des Raumes, bis ich im Norden die Hausbar entdecke. Die meisten Etiketten sind mir fremd. Um nicht aus Versehen etwas zu erwischen, was die Geschäftsfreunde sich vor den Vertragsverhandlungen gegenseitig ins Glas kippen, mixe ich mir einen langweiligen Pastis/Wasser.
Nach dem dritten fühle ich mich stark genug, um den Geräuschen der beiden Turteltäubchen zu folgen, und stehe bald vor einem weiteren Schlafzimmer. Ich atme kurz durch, dann stoße ich die Tür auf und bekomme das Bild zum Ton. Die Tänzerin liegt auf dem Rücken, und obendrauf bestätigt Koksbacke ein altes Vorurteil – er vögelt, wie er tanzt.
Ich schaue ihr ins Gesicht, sie ist voll dabei und zeigt diesem Arschloch, das ihr morgen früh Geld zustecken wird, genauso viel, wie ich zu sehen bekam. Ich höre ihre Worte, sehe, wie sie ihn antreibt, und plötzlich geht mir ein Licht auf: Für sie besteht kein Unterschied zwischen diesem Arschloch und mir! Es gab nie einen Unterschied!! Die Erkenntnis, nichts Besonderes gewesen zu sein, lässt mich zittern.
Sie hebt den Blick. Zuerst erstarren ihre Gesichtszüge, dann der Rest. Dem Nekrophilen auf ihr macht das anscheinend nichts aus – er fickt weiter auf sie ein, als hätte er eine Deadline.
Ich will sie anschreien, sie zusammenstauchen und kriege keinen Ton heraus. Stattdessen tippe ich mir an die Stirn: Denk!
Eine Zeit lang scheint sie das tatsächlich zu tun, liegt einfach nur da und starrt mich mit aufgerissenen Augen an, doch dann beginnt sie, sich wieder zu bewegen. Langsam und ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, greift sie um ihn herum und krallt ihm die Fingernägel in den Arsch. Er juchzt laut auf, und sie schaut mich dabei auf eine Art an ... Keine Worte und in mir – irgendwas Kaputtes geht kaputt ...
Ich strecke ihr einen Finger entgegen und sehe zu meinem Erstaunen, dass es nicht der mittlere ist. Mein rechter Daumen steht in der Luft und wünscht ihr einen guten Rutsch. Wohin auch immer.
Ich lasse die beiden mit ihrer Einsamkeit alleine und verirre mich an die Bar zurück, wo ich mir Nummer vier mixe. In meinem Kopf dreht sich alles. Nicht nachdenken! Um dem nachzuhelfen, verschreibe ich mir einen Spaziergang.
Als ich mich nach acht weiteren Zimmern plötzlich wieder in der Käseglocke befinde, weiß ich, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hat: Hier hat sich ein Architekt eine goldene Nase verdient und zur Abwechslung mal zu Recht. Die Akustik ist so gut, dass ich von meinem Standort aus die Hilferufe der beiden Alleingelassenen mitverfolgen kann. Ich stelle mich an die Bar und mixe Nummer fünf. Wirre Gedanken verursachen eine Baustelle auf der Autobahn meiner Denkfähigkeit. Frage: Wenn zwei Leute zur selben Zeit im selben Raum einen Monolog halten können, ohne dabei einen Dialog einzugehen, haben dann zwei Menschen, die sich zur selben Zeit im selben Raum selbst befriedigen, Sex miteinander? Fragen ...
Der Pastis ist gar nicht so langweilig, wie ich dachte, hihi ... Nummer fünf lebt! Aber nicht lange. Ich setze mich mit Nummer sechs und der Flasche in einen Clubsessel, der den Jahresetat der Band verschluckt hat, und widme schon bald Nummer sieben meine volle Aufmerksamkeit. Vor mir die Dächer der Stadt und ein Sternenhimmel. Ein paar Dezibel darüber ziehen die beiden Turteltäubchen die Stukas-über-London-Nummer durch. Ich trinke auf die Flak.
Irgendwann graut der Morgen. Ich befinde mich in einem leicht schwebenden Zustand. Seit geraumer Zeit ist im Viertel Ruhe eingekehrt. Kein Auto fährt, kein Zug ist zu hören, kein Boot tutet. Über mir der Sternenhimmel, unter mir die Altstadt, still und farblos wie ein Schwarz-Weiß-Foto. Auch ein paar Zimmer weiter ist
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